Schön scheußlich
Körnchen Wahrheit. Nach vielen Jahrzehnten des Streits über die Definition so schwer fassbarer und subjektiver Begriffe wie Wahnsinn und Kreativität und trotz des unter Wissenschaftlern verbreiteten grundsätzlichen Widerstands gegen jedwede Idee, die die Fantasie der Allgemeinheit schon lange fesselt, haben Psychiater, Neurologen und Evolutionsgenetiker eindrucksvolle Beweise dafür erbracht, dass an der Verknüpfung zwischen einem labilen oder kranken Gemüt und künstlerischen Leistungen etwas dran ist. Eine Studie nach der anderen hat gezeigt, dass Menschen im Bereich der Kunst unverhältnismäßig häufig unter Gemütserkrankungen wie manisch-depressiven Störungen und Depressionen zu leiden haben.
Die Manisch-Depressiven schwanken zwischen höchsten Höhen und tiefstem Abgrund - zwischen einem Gefühl der Größe und Unbekümmertheit, unerschöpflichen Energiereserven, die sich aus sich selbst nähren und Schlaf unnötig machen, und massiver, von quälender Lethargie und Selbsthass beherrschter Depression. Viele der hervorragendsten Künstler scheinen von einer ausgewachsenen manisch-depressiven Erkrankung heimgesucht gewesen zu sein, andere haben offensichtlich unter leichteren Formen dieser Krankheit gelitten. Noch andere hatten einzig unter wiederkehrenden schweren Depressionen zu leiden, der gleichen Seelenqual, die sich auch im Tal der manisch-depressiven Störung einstellt, jedoch ohne das euphorische Gegenstück zu erleben.
Die Künstler, bei denen man eine manisch-depressive Erkrankung oder schwere Depressionen verlässlich diagnostizieren konnte, würden einen wahren Musentempel füllen: Lord Byron, Percy Bysshe Shelley, Herman Melville, Robert Schumann, Virginia Woolf, Samuel Taylor Coleridge, Ernest Hemingway, Robert Lowell, Theodor Roethke, um nur einige wenige zu nennen. Je nach Studie leiden die herausragendsten kreativen Persönlichkeiten zehn-bis dreißigmal so häufig unter einer manisch-depressiven Erkrankung oder Depressionen wie die übrige Bevölkerung. Und obwohl Kreativität für viele Berufe ein entscheidender Faktor ist, scheint die Verknüpfung zwischen Kreativität und geistiger Labilität .in der Kunst auffälliger zu sein als auf anderen Gebieten. In einer Studie an eintausendvier prominenten Persönlichkeiten vom Schlag eines Aldous Huxley, Alexander Graham Bell, Albert Einstein und Henri Matisse stellten Psychiater fest, dass psychische Störungen bei Künstlern vergleichsweise häufiger vorkamen. Alkoholabhängigkeit beispielsweise wurde bei Schauspielern mit einer Häufigkeit von sechzig und bei Schriftstellern von einundvierzig Prozent festgestellt. Bei Physikern lag die Rate bei drei und bei Offizieren bei zehn Prozent. An manisch-depressiver Erkrankung litten bei den Schauspielern siebzehn Prozent und bei den Dichtern dreizehn Prozent, während bei Wissenschaftlern die Rate unter einem Prozent lag, das entspricht in etwa der Häufigkeit innerhalb der übrigen Bevölkerung.
Nichts von alledem ist ein Versuch, psychische Erkrankungen romantisch zu verbrämen oder den Eindruck zu vermitteln, dass man verrückt sein muss, um in seiner Kunst Großes zu vollbringen - oder umgekehrt, dass die Gedichte einer durchschnittlichen Irren eher unsterblich zu sein haben als die eines durchschnittlichen Versicherungsvertreters. Qualen und Gefahren von Gemütserkrankungen haben dramatische Dimensionen: Behandelt man Patienten mit manisch depressiver Erkrankung nicht mit Lithium oder anderen Medikamenten, begehen sie in zwanzig Prozent aller Fälle Selbstmord. Und natürlich setzt eine künstlerische Leistung ein nie nachlassendes Streben und manches persönliche Opfer voraus, eine Hingabe, die über das hinausgeht, was die meisten Sterblichen zu leisten imstande sind, gleichgültig wie viele Neurosen sie auch für sich beanspruchen.
Ein Merkmal aller großen Künstler, bei denen man irgendeine Form von psychischer Erkrankung festgestellt hat, besteht ja darin, dass ihre manischen Ausbrüche oder depressiven Täler von langen Episoden der Normalität unterbrochen sind, in denen die Künstler ihre Arbeit voll und ganz im Griff haben. Während solcher gesunder Perioden geht es ihnen überdurchschnittlich gut. Sie sind dann zuversichtlicher und konzentrierter als die meisten anderen. Ihre Instrumente scheinen dann auf himmlische Tonleitern eingestimmt zu sein. Solange es ihnen gut geht, arbeiten sie hervorragend und sind produktiv. Doch wenn die Dunkelheit zurückkehrt, verfallen sie
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