Schönbuchrauschen
klären. Auch wenn ich sie mir als Täterin nicht so recht vorstellen kann.«
»Denk mal an die Aktion Overkill.«
»Was?«
»Aktion Overkill. So sagte doch unser Tübinger Kollege, weil Theo mehr als einmal umgebracht wurde: mit K-o-Tropfen und Insulin, und dann wurde er auch noch erstickt. Er hat doch vermutet, dass der Täter oder die Täterin vor der physischen Überlegenheit des Opfers Angst hatte. Unter dem Aspekt kann ich mir eine kleine zierliche Person sehr wohl als Täterin vorstellen.«
»Das klingt plausibel«, sagte Kupfer nachdenklich, »und doch finde ich es unglaublich. Das würde dir genauso gehen, wenn du mit Erika Krumm gesprochen hättest. Wie muss sich dieses Mädchen in den letzten fünfzehn Jahren verändert haben, falls sie es tatsächlich war? Das ist für mich schwer vorstellbar.«
»Für mich aber nicht«, sagte Feinäugle sehr bestimmt. »Nimm es bitte nicht persönlich, Siggi. Es ist einfach so: Wenn ich mit der Krumm geredet hätte und dir dann die bloßen Fakten mitgeteilt hätte, dann würde ich zweifeln und du wärst überzeugt. Reduzier einfach alles, was dir die Krumm erzählt, auf ein paar knallharte Fakten und vergiss das Gespräch selbst, dann siehst du klar.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Zu viel Empathie verklebt einem manchmal den Verstand.«
»Macht nichts. Deshalb arbeiten wir ja nie allein.«
Feinäugle konnte Dr. Jürgen Halbritter mühelos aufspüren. Sein Facebook-Auftritt machte es möglich. Lauthals verkündete er dort, dass er zu den jungen Ärzten gehöre, die nach ihrer Ausbildung an deutschen Universitäten in die Schweiz ausgewandert waren. Einen Grund dafür nannte er nicht. Feinäugle schickte ihm eine Mail mit der Bitte, sobald es ihm möglich sei, ihn bei der Polizeidirektion Böblingen anzurufen. Seine Aussage würde im Zusammenhang einer wichtigen Ermittlung benötigt.
Halbritter meldete sich schon am nächsten Tag und zeigte sich über die Anfrage überrascht. Außerdem hatte Feinäugles Formulierung seine Neugier geweckt.
»Was verschafft mir die Ehre? In welchem Kriminalstück bieten Sie mir eine Rolle an?«, fragte er, als handelte es sich um eine Einladung zum Landespresseball.
»Das darf ich Ihnen leider nur in Umrissen skizzieren. Uns ist bekannt, dass Sie Dr. Ferdinand Lipp kannten. Vielleicht haben Sie schon erfahren, dass Dr. Lipp bei einem Autounfall ums Lebens gekommen ist.«
»Ja, davon habe ich gehört. Sehr bedauerlich.«
»Es hat einige seltsame Vorfälle gegeben, die mit dem Nachlass von Dr. Lipp zusammenhängen könnten, weshalb wir allen möglichen Spuren nachgehen müssen. Um es kurz zu machen, wir sind bei Ermittlungen auf ein Foto auf Ihrer Facebook-Seite gestoßen, zu dem wir einige Fragen haben. Sitzen Sie zufällig vor einem PC mit Netzzugang?«
Halbritter bejahte diese Frage.
»Dann gehen Sie doch bitte auf Ihre Facebook-Seite. Es handelt sich um ein Foto, das in Tübingen auf einem Stocherkahn aufgenommen wurde. Sie stochern den Kahn, und auf dem Kahn sitzen Dr. Lipp und Theo Krumm in Begleitung von zwei Mädchen. Erinnern Sie sich an das Foto?«
»Ja, ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Ich rufe es auf.« Feinäugle hörte Halbritter klicken.
»So«, sagte er nach kurzer Pause. »Ich habe es vor mir. Mein Gott, ist das lange her! Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen. Worum geht es?«
»Es geht um die junge Dame, die im Vordergrund sitzt und genau in die Kamera schaut. Kennen Sie die?«
»Ja, an die erinnere ich mich sogar gut, das ist Judith Schwenk. Und auch an den Tag erinnere ich mich gut. Es war nämlich der Ausklang meiner Examensfeier, also am Tag danach. Lipp und ich hatten damals engen Kontakt durchs Studium, aber diesen anderen Typ, wie hieß er noch …«
»Theo Krumm.«
»Richtig. Diesen Theo Krumm hatte ich vorher nicht gekannt. Er war wohl dabei, weil er zu der einen Frau gehörte, und die war wieder nur dabei, weil sie mit Lipps Freundin befreundet war.«
»Und Judith Schwenk?«
»Die kam mit Ansgar Hoffmann, meinem WG-Genossen, der das Bild aufgenommen hat. Er und sie studierten BWL oder Volkswirtschaft, so genau weiß ich es nicht mehr. Er war im Studium weiter als sie, weil sie vorher eine Banklehre gemacht hatte.«
»Das ist sicher?«
»Ja, ich erinnere mich daran, weil wir die ganze Zeit herumflachsten: Wir, die Mediziner würden das Geld verdienen, und die Wirtschaftler würden es für uns anlegen und vermehren, damit sie ihren Teil davon abkriegten. Wenn wir ans große Geld wollten,
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