Schöne Lügen: Roman (German Edition)
die sie wütend machte. Ihre Verwirrung wurde zu hilfloser Wut, also fuhr sie ihn an: »Vermutlich bewegte sich alles, was Sie getan haben, im Rahmen Ihrer Pflichten!«
Natürlich wußte er, was sie meinte, und Erin erkannte auch sofort, daß ihre Wut ihn ansteckte. »Genau«, erwiderte er schroff.
Gestern hatte sie mit ihm gestritten, weil er sie so schlecht behandelt hatte, aber das war erst der Anfang gewesen. Sie hatte keine Ahnung, welche Erniedrigung er sich noch für sie ausgedacht hatte. Ihre Augen glänzten wie glühende Kohlen, als sie ihn jetzt böse fixierte.
»Sie …«, begann sie.
»Mrs. Lyman wartet mit dem Frühstück. Sie hat sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen«, sagte Mike, der ausgerechnet in diesem Augenblick mit einem breiten Grinsen auftauchte.
Er hatte Erins Einleitung unterbrochen, und sie fühlte sich der Möglichkeit beraubt, Mr. Barrett deutlich ihre Meinung zu sagen und seine undurchdringliche Kaltschnäuzigkeit ein wenig zu erschüttern.
»Wir sind nicht hier, um zu essen«, fuhr Lance den verdutzten Mike an, und dessen Grinsen erstarb angesichts Lances schlechter Laune.
»Nein, Sir«, beeilte er sich zu versichern. »Sie hat nur all diese Sachen extra zubereitet und sagte …« Er wußte nicht ein noch aus. Lance starrte ihn noch immer finster an, und Mike zog schnell die Serviette weg, die er sich unter den Gürtel seiner Hose geschoben hatte: »Gibt es etwas, das ich erledigen soll, Lance?«
Lance ließ die lang angehaltene Luft mit einem Zischen entweichen, dann fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar. »Nein, nein, frühstücke ruhig. Ich gehe nach drüben und ziehe mich um. Dann stehen noch einige Telefonate an, ich muß mit dem Hauptbüro sprechen, aber wenn du mich brauchst, ruf mich bitte. Mehr als eine Stunde bin ich sicher nicht beschäftigt.«
Mit diesen Worten kam er um den Tisch herum und verschwand, ohne Erin noch eines Blickes zu würdigen, aus dem Zimmer. Sie stand einen Augenblick wie ein begossener Pudel da, bis Mike sie in die Wirklichkeit zurückrief.
»Mrs. Lyman wartet auf Sie. Ich glaube, ich bin schon
satt.« Lances unwirsches Benehmen hatte ihn wirklich eingeschüchtert.
Agent Barrett besaß diese Wirkung auf andere Menschen.
Melanie erwies sich als ausgezeichnete Köchin, und während Erin die köstlichen Speisen verzehrte, die Melanie zubereitet hatte, dachte sie über ihre nächsten Aufgaben nach. Sie hatte keine Ahnung.
Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie war in das Leben ihres Bruders eingedrungen, und er steckte in großen Schwierigkeiten. Er würde nie mehr unbefangen sein können, entweder verurteilte man ihn zu vielen Jahren Gefängnis oder er würde ständig unter dem Stigma dessen leiden, was er sich eingebrockt hatte. Bis gestern war er für sie nicht mehr gewesen als ein Name auf einem Stück Papier, eine Hoffnung, ein Versprechen. Heute war er ein wirklicher Mensch mit wirklichen Problemen, und sie konnte sich nicht von ihm abwenden, er war ihr einziger Verwandter, und gerade jetzt brauchte er all den Beistand, den er nur bekommen konnte.
Ihr Grund, Ken finden zu wollen, war die Sehnsucht nach einer eigenen Familie. Sie hatte auf Wärme gehofft und Anteilnahme, Stunden voller Lachen und Erinnerungen. Konnte sie nun aus Enttäuschung abstreiten, daß Ken Lyman ihr Bruder war? Familien teilten nicht nur die fröhlichen Stunden miteinander. Sie teilten sich auch ihre Sorgen. Und vielleicht verband sie das viel enger miteinander.
Erin mochte Melanie. Die Naivität und Freundlichkeit der jüngeren Frau weckten in ihr die Zuneigung der großen Schwester, und sie fühlte sich verpflichtet, bei Melanie zu
bleiben und ihr in den kommenden Tagen zur Seite zu stehen.
Ihr Entschluß war gefaßt, sie würde in San Francisco bleiben.
Während sie geistesabwesend an ihrer zweiten Tasse Kaffee nippte, fragte sie sich, warum sie sich nicht erleichtert fühlte, nachdem sie eine so wichtige Entscheidung getroffen hatte. Machte sie sich etwa Sorgen um ihre Firma? Eine längere Abwesenheit war nicht förderlich für das Geschäft, ganz besonders nicht, weil die Kunden oft den Wunsch hatten, mit ihr persönlich zu verhandeln. Sie vertrauten auf Erins Erfahrung, auf ihre Kreativität und ihren ausgezeichneten, wenn auch manchmal etwas extravaganten Geschmack. Manchmal wünschten sie ihre Meinung zu hören, ehe sie einen Vorschlag annahmen, den einer von Erins Mitarbeitern ihnen unterbreitet hatte.
Seit Gründung der Firma hatte sie
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