Schöne Ruinen
das warme Wetter, mit dem hoffentlich bald zu rechnen war.
Schließlich verabschiedete sich das Paar, und die Montelupos wurden nach Beendigung ihrer Runde nacheinander von der hohen Holztür ihres schmalen Hauses verschlungen, die Bruno feierlich hinter ihnen zuzog. Rauchend stand Pasquale an seinem Pfosten und wartete. Er schielte auf die Uhr: noch jede Menge Zeit bis zum letzten Zug nach Rom.
Zehn Minuten später schritt Amedea mit verschränkten Armen über den Platz, als wäre ihr kalt. Er hatte nie in ihren betörenden braunen Augen und den schwarzen Brauen lesen können. Sie waren so feucht und traurig, dass sie immer zum Vergeben bereit schienen, selbst wenn Amedea wütend war, was oft vorkam.
»Bruno?«, sagte Pasquale, als Amedea noch mehrere Schritte entfernt war. »Du hast zugelassen, dass sie ihn Bruno nennen?«
Knapp vor ihm blieb sie stehen. »Was machst du hier, Pasquale?«
»Ich wollte dich sehen. Und ihn. Kannst du ihn mir bringen?«
»Red keinen Unsinn.« Sie nahm ihm die Zigarette aus der Hand, zog daran, und stieß den Rauch durch den Mundwinkel aus. Er hatte fast vergessen, wie klein Amedea war – so drahtig und geschmeidig. Sie war acht Jahre älter als er, und ihre Bewegungen hatten eine eigenartige, fast katzenhafte Leichtigkeit. Noch immer wurde ihm schwindlig in ihrer Gegenwart, vor allem wenn er sich daran erinnerte, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihn früher in seine Wohnung geschleppt (sein Mitbewohner war untertags nicht da), ihn aufs Bett gestoßen, seine Hose aufgeknöpft, ihren Rock gehoben und sich auf ihn gesetzt hatte. Dann hatte er ihr die Hände um ihre Taille gelegt, ihr tief in die Augen geschaut und gedacht: Das hier ist die ganze Welt.
»Kann ich meinen Jungen wenigstens sehen?«, fragte Pasquale erneut.
»Vielleicht morgen früh, wenn mein Vater im Büro ist.«
»Morgen früh bin ich nicht mehr da. Ich muss heute Abend mit dem Zug nach Rom.«
Sie nickte wortlos.
»Also … tust du einfach so, als wäre er dein Bruder? Und niemand findet es seltsam, dass deine Mutter noch mal ein Baby gekriegt hat … zwölf Jahre nach ihrem letzten Kind?«
Amedea antwortete mit müder Stimme: »Ich habe keine Ahnung, was die Leute denken. Papa hat mich zur Schwester meiner Mutter nach Ancona geschickt, angeblich, damit ich sie pflege, weil sie krank ist. Meine Mutter hat Schwangerschaftskleider angezogen und erzählt, sie fährt zur Geburt nach Ancona. Nach einem Monat sind wir mit meinem kleinen Bruder zurückgekommen.« Sie zuckte die Achseln, als wäre es das Normalste von der Welt. »Ein Wunder.«
Pasquale wusste nicht, was er sagen sollte. »Wie war es?«
»Ein Kind zu kriegen?« Sie wandte den Blick ab. »Als würde ich ein Huhn scheißen.« Lächelnd schaute sie ihn wieder an. »Aber jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Er ist ein süßer Junge. Wenn alle schlafen, nehme ich ihn manchmal auf den Arm und sage leise zu ihm: ›Ich bin deine Mamma, kleiner Spatz.‹« Abermals deutete sie ein Achselzucken an. »Und dann vergesse ich es wieder und glaube fast, dass er mein Bruder ist.«
Pasquale wurde übel. Es war, als würden sie sich über eine abstrakte Idee unterhalten und nicht über ein Kind, ihr gemeinsames Kind. »Das ist verrückt. Wie kann man sich 1962 so benehmen? Es ist falsch.«
Schon als er die Worte aussprach, war ihm klar, wie lächerlich sie klangen, denn immerhin musste das Kind ohne ihn aufwachsen. Amedea starrte ihn schweigend an und zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. Ich wollte dich heiraten . Fast wäre es Pasquale herausgerutscht, doch er hielt sich zurück. Sie hätte nur gelacht, da sie seinen »Antrag« ja miterlebt hatte.
Amedea war im Alter von siebzehn mit dem wohlhabenden, aber froschäugigen Sohn des Immobilienmaklers verlobt gewesen, der zusammen mit ihrem Vater eine Firma betrieb. Als sie sich weigerte, einem Mann das Jawort zu geben, der mehr als doppelt so alt war wie sie, tobte ihr Vater vor Wut. Sie hatte die Familie entehrt, und wenn sie diesen absolut seriösen Freier ausschlug, dann durfte sie eben gar nicht heiraten. Sie hatte zwei Möglichkeiten: Entweder sie ging in ein Kloster, oder sie blieb im Haus und kümmerte sich um ihre älter werdenden Eltern und die zu erwartenden Kinder ihrer verheirateten Schwestern. Amedea erklärte sich bereit, Kindermädchen für die Familie zu spielen. Sie brauchte keinen Ehemann. Irritiert von ihrer trotzigen, missmutigen Gegenwart im Haus, gestattete ihr Vater später,
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