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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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dass sie eine Stelle als Sekretärin an der Universität antrat. Dort hatte sie seit sechs Jahren gearbeitet und sich gelegentlich auf ein Abenteuer mit jemandem von der Fakultät eingelassen, um gegen ihre Einsamkeit anzukämpfen, als sie mit siebenundzwanzig bei einem Spaziergang dem neunzehnjährigen Pasquale begegnete, der am Ufer des Arno saß und ein Lehrbuch las. Sie blieb vor ihm stehen, und als er aufblickte, lächelte sie ihn an. »Hallo, Blauauge.«
    Von Beginn an fühlte er sich magisch angezogen von ihrer rastlosen Energie und ihrem subversiven, schlagfertigen Witz. An diesem ersten Tag bat sie ihn um eine Zigarette, doch er hatte keine, weil er nicht rauchte. »Ich komme hier jeden Mittwoch vorbei«, sagte sie, »falls du anfangen willst.«
    Als sie eine Woche später auftauchte, sprang Pasquale auf und zog mit zitternden Händen eine Schachtel Zigaretten heraus, um ihr eine anzubieten. Er zündete sie an, und Amedea deutete auf die offenen Bücher am Boden – ein Band mit Gedichten und ein Englischwörterbuch. Er erklärte, dass er das Gedicht »Amore e morte« übersetzen sollte. »Der große Leopardi.« Mit diesen Worten bückte sie sich und hob sein Notizbuch auf. Sie las, was er bisher übersetzt hatte: »Fratelli, a un tempo stesso, Amore e Mort e / ingenerò la sorte« – »Brüder, die Zeit ist gleich, Liebe und Tod, erzeugten Sorten.«
    »Ganze Arbeit«, meinte sie, »du hast dem Lied jede Melo die ausgetrieben.« Sie gab ihm das Notizbuch zurück. »Danke für die Zigarette.« Dann verschwand sie.
    Als Amedea in der folgenden Woche zum Fluss kam, wartete Pasquale mit einer Zigarette und seinem Notizbuch, das sie wortlos nahm, um laut daraus vorzulesen: »Als Zwillinge zugleich schuf das Schicksal Liebe und Tod.« Lächelnd reichte sie ihm das Heft und fragte, ob er in der Nähe wohnte. Zehn Minuten später zog sie schon an seiner Hose – die erste Frau, die er je geküsst und mit der er je geschlafen hatte. In den nächsten eineinhalb Jahren trafen sie sich zweimal wöchentlich in seiner Wohnung. Sie verbrachten nie die Nacht miteinander, und sie betonte, dass sie sich nie in der Öffentlichkeit mit ihm zeigen würde. Sie war nicht seine Freundin, so erklärte sie, sondern seine Lehrerin. Sie versprach, ihm bei seinen Studien zu helfen und einen guten Liebhaber aus ihm zu machen. Von ihr konnte er lernen, wie er Frauen ansprechen konnte und was er vermeiden musste, wenn er mit ihnen redete. (Als er beteuerte, dass er nicht auf andere Frauen aus war, dass er nur sie wollte, lachte sie.) Auch über seine ersten, ungeschickten Konversationsversuche lachte sie. »Wie kann es sein, dass diese schönen Augen so wenig zu sagen haben?« Sie brachte ihm bei, Blickkontakt herzustellen und vor einer Antwort erst einmal tief einzuatmen und sich seine Worte genau zu überlegen. Natürlich gefielen ihm am besten die Lektionen, die sie ihm auf der Matratze am Boden erteilte – wie er seine Hände benutzen musste, wie er ein zu schnelles Ende vermied. Nach mehreren erfolgreichen Unterrichtsstunden sank sie eines Tages über ihn und meinte: »Ich bin wirklich eine gute Lehrerin. Deine spätere Frau kann sich glücklich schätzen.«
    An diesen Nachmittagen versank er in einem Strudel, und er hätte sein ganzes Leben so weitermachen, hätte Seminare besuchen können in dem Wissen, dass zweimal pro Woche die bezaubernde Amedea kam, um ihn zu unterrichten. Einmal, nach einer besonders innigen Begegnung, entschlüpften ihm die Worte: »Ti amo.«
    Sie stieß ihn weg, stand auf und griff nach ihren Kleidern. »Das kannst du nicht einfach so sagen, Pasquale. Diese Worte haben eine unglaubliche Kraft. Sie treiben die Leute zum Heiraten.« Sie zerrte an ihrer Bluse. »Sag das nie mehr nach dem Sex, hast du verstanden? Wenn es dich danach drängt, so was von dir zu geben, schau dir die Frau lieber am Morgen an, mit Mundgeruch und ohne Schminke … oder auf der Toilette … hör zu, wie sie mit ihren Freundinnen tratscht … lerne ihre haarige Mutter und ihre kreischenden Schwestern kennen. Wenn du dann immer noch das Bedürfnis hast, solche Sprüche zu klopfen, dann ist dir nicht zu helfen.«
    Immer wieder schärfte sie ihm ein, dass er sie nicht wirklich liebte, dass das nur die Reaktion auf seine ersten sexuellen Erfahrungen sei, dass sie zu alt für ihn wäre, dass sie nicht zueinander passten, dass sie verschiedenen Schichten angehörten, dass er eine Frau in seinem Alter brauche. Sie vertrat ihre Meinung so

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