Schoener Schlaf
Versteck fernab des Kunstbetriebs hatten ihnen gutgetan, sie dem Kunstbetrieb entzogen. Sie waren quasi wieder jungfräulich geworden. Sie der Ãffentlichkeit zu präsentieren, würde keine kleine Sensation werden.
Leist befand sich in dem Raum, in dem die Gemälde verwahrt wurden. Sie kannte inzwischen jedes Detail. Das Innere einer Kirche mit Hund und hohen Gewölben, den Bäcker, der ins Land trompetete, dass sein Brot fertig war, das verheiratete Paar beim Schachspiel â sie knapp davor, ihn zu schlagen â, die unvermeidliche Kneipenszene mit lockerem Weibsvolk, das Küchensujet mit hingerichtetem Federvieh, die hübsche Szene, in der eine Mutter ihr Mädchen entlaust, der Arzt, der einer Liebeskranken den Puls fühlt, der weinende Trommeljunge, der keine Lust mehr hat, für andere den Animateur zu spielen, und schlieÃlich das Bild, das Meyer zwei ins Grübeln gebracht hatte: die drei merkwürdigen Frauen mit den beiden Kindern, dem Mann und dem zerknüllten Brief auf dem Boden.
Leist beschloss, nicht nur die Bilder auszustellen, sondern eine Reihe von Veranstaltungen zu organisieren â vielleicht über das Handwerk im 17.  Jahrhundert, die Mode der Frauen, das Leben und die Spiele der Kinder, die Moral und das Laster.
Vielleicht lieÃe sich auch ein kleines Konzert arrangieren? Musik aus der Zeit, gespielt auf historischen Instrumenten. Die Bilder zeigten genug musikalische Andeutungen, Symbole für Tabus. Die Laute mit Rosette in der Mitte war ein Sinnbild für die Vagina, die Flöte für den Penis; tauchte ein Affe auf, war er ein Symbol für die niedersten Triebe, ebenso eine geöffnete Auster oder eine Wein trinkende Frau.
Was gefiel ihr eigentlich an diesen unperfekten Dingern? War es diese unbefangene Naivität, gepaart mit dem augenzwinkernden Bemühen, den Betrachter zu einem gottesfürchtigen und sittenstrengen Menschen zu erziehen? Die Weltuntergangsstimmung nach dem Motto Nach-mir-die-Sintflut und GenieÃen-bis-die-Schwarte-kracht?
Leist setzte einen weiteren Satz unter ihren Text:
Â
Die Bilder sind gemalte Zeitkommentare zwischen Lebensbewältigung und Angst vor Höllenqualen, verquickt mit Menschlichkeit und Humor.
*
Die Hitze war schon am Morgen wie dichte Watte, in welche die Stadt eingepackt war. Sommerberg machte dieses Wetter zu schaffen, sein Herz schlug mühsam und er fühlte das Blut wie zähen Honig durch die Adern flieÃen.
Anna dagegen blühte auf. In Kürze würde sie in der Kunsthalle ihren neuen Job antreten. Sie genoss die frühe Sonne, trug kurze Hosen und legte sich mit einigen Kunstbüchern und einer Kühltasche ans Seeufer.
Leon Fabry war Anna zum See gefolgt. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Ihm gefielen der wiegende Gang und ihre wohlgeformten, kräftigen Beine. Er lieà sie zehn Minuten in den Büchern blättern, bevor er sich näherte.
»Frau Stern! Das ist aber ein Zufall. Erinnern Sie sich noch an mich?«
»Natürlich. Hallo, Herr Fabry«, erwiderte Anna erstaunt. »Sind Sie wieder hier, um mich zu retten?«
Trotz der Hitze war Fabry korrekt gekleidet. Anzug mit Weste und eine Fliege um den Hals.
»Fühlen Sie sich noch immer für mich verantwortlich?«, insistierte sie.
»Natürlich«, antwortete Fabry und lieà sich ebenfalls auf dem Rasen nieder. »Wie geht es Ihnen so? Was macht der verletzte Fu�«
»Alles in Ordnung«, sagte Anna.
Fabrys Blick fiel auf die Bücher. »Sie interessieren sich für Kunst?«
Der Mann ging ihr auf die Nerven und sie wollte ihm schon eine schnippische Abfuhr erteilen. Dann schalt sie sich. Es gab keine Anzeichen dafür, dass dieser Fremde ihr zu nahe treten wollte. So ging sie auf seine Frage ein.
»Ja, ich interessiere mich wirklich sehr für Kunst. Ich bin sozusagen damit groà geworden. Mein Onkel ist ein groÃer Kunstliebhaber.«
»Jeder zivilisierte Mensch sollte sich für Kunst interessieren«, dozierte Fabry. »Meine Mutter war Künstlerin. Und ich engagiere mich im Kunstverein, der die Kunsthalle unterstützt.«
»Das ist aber ein Zufall«, lächelte Anna. »Ich trete demnächst eine Stelle in der Kunsthalle an. Als Hilfskraft für eine Ausstellung.«
»Eine neue Ausstellung? Was zeigt sie denn?«
Anna zögerte. »Es ist noch nicht spruchreif, soweit ich weiÃ. Es geht um zwanzig Bilder, die der
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