Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
anderen trieb. Die Tatsache, dass ich spät in die produktivste Periode meines Lebens eintrat, zwang mich zu ständiger Eile, und ich konnte das Leben selten leicht nehmen. Ehe er wirklich eingeschlagen wurde, schien mein Weg wild und unmöglich zu bewältigen; im Nachhinein erscheint alles als unvermeidlich. Auf halbem Weg zu jeder Entdeckung – nicht früher – erlebte ich eine wundervolle und erfreuliche Überraschung.
Wäre ich zu IBM gestoßen, als das Unternehmen entweder noch nicht bereit oder schon allzu gut organisiert war, wäre ich vielleicht wieder in die akademische Welt Frankreichs zurückgekehrt. Wenige meiner Kollegen hatten das Glück, dass ungeplante und wahrhaft außergewöhnliche Faktoren wie bei mir zusammenkamen: einmal ein Individuum, das bereit war, sich auf vielen verschiedenen Gebieten zu versuchen, und dazu ein Unternehmen, das gewillt war, dem Urteil dieses Individuums zu vertrauen. Letztlich zeigte sich, dass sich alles, was ich während meiner ansonsten zu langen und zu flatterhaften Wanderjahre gelernt hatte, allmählich von einer zufälligen Bürde für meine Erinnerung zu einem sehr wertvollen Schatz meiner Arbeit wandelte.
Ich arbeitete auf den vier Forschungsgebieten, die im Titel dieses Kapitels genannt sind – Ökonomie, Ingenieurswissenschaften, Mathematik und Physik –, und befasste mich mit Fraktalen in der Kunst. Die ersten drei Gebiete stehen für die Fakultäten, in denen ich als Gastprofessor in Harvard unterrichtet habe. Unter diesen drei Fächern sind es das Finanzwesen und die Mathematik, in denen ich den größten Einfluss erlangte. Die Physik – obwohl ich, wie ich fürchte, in ihr am wenigsten angestoßen habe – hatte dennoch für meine Arbeit die großzügigsten Belohnungen übrig. Meine übrige Forschung beeinflusste lediglich ziemlich kleine Wissenschaftsgemeinden. Eine tief reichende Einheit, die in meiner Arbeit stets präsent war, wurde allmählich sichtbar, dann immer deutlicher und schließlich zu meiner Richtschnur.
Ich betrachte mich selbst als Sonderfall, als »Ausreißer«. Ich war auf vielen Gebieten tätig, ohne mich aber letztlich einem vollständig zu verschreiben. Es macht mir auch nichts aus, dass das Wort »Ausreißer« in der Statistik eine feststehende technische Bedeutung hat: Es bezeichnet eine Beobachtung, die sich so sehr von der Norm unterscheidet, dass sie möglicherweise einer zufälligen, von außen kommenden Verfälschung geschuldet ist. Ein klassisches Beispiel betrifft astronomische Beobachtungen, die durch im Observatorium lebende Katzen verfälscht wurden. Ja, Katzen, die über den Boden des Observatoriums gingen, erschütterten das Teleskop ein wenig, worauf einige Umlaufbahnen falsch berechnet wurden. Zwei Jahrhunderte lang haben Ökonomen und Statistiker nach guten Möglichkeiten gesucht, reale Daten zu erhalten und gleichzeitig mögliche »Katzen« zu eliminieren. Im Gegensatz dazu habe ich festgestellt, dass die sogenannten Ausreißer im Finanzwesen entscheidend sind. Das heißt, ein allgemeiner Aspekt meiner Arbeiten läuft darauf hinaus, dass Werte weit außerhalb der Norm Schlüssel für die dahinterstehenden Phänomene sind und nicht eliminiert werden dürfen. Ich selbst habe auf vielen Gebieten gearbeitet, in denen ich weit außerhalb der Norm lag – in dieser Hinsicht bin also auch ich ein Ausreißer.
Hydrologie: Der Joseph des Alten Testaments, Hurst und ich
Siehe, sieben reiche Jahre werden kommen in ganz Ägyptenland: Und nach ihnen werden sieben Jahre des Hungers kommen . Diese Worte finden sich im Alten Testament. Unter 1. Mose 41:29–30 kann man nachlesen, wie der Pharao einen Traum hatte und sein hoher Ratgeber Joseph, Sohn des Jakob, diesen Traum deutete – und Ägypten vor einer Hungersnot bewahrte, indem er ausreichend Getreide für die mageren Jahre einlagern ließ.
Der Hydrologe Harold Edwin Hurst (1880–1978), ein willensstarker autodidaktischer Gelehrter, der seinen Abschluss in Oxford machte, deutete diesen Traum als Darstellung der notorisch schwankenden Wassermengen des Nils. Bekannt als Abu Nil (Vater des Nils), machte er sich selbst zum Experten des Nil-Beckens und setzte sich als einer der Ersten dafür ein, den Assuan-Damm zu bauen. Er brachte Jahre damit zu, nach modernen Daten für eine »Signatur« von Josephs Deutungen zu suchen. Da die Angelegenheit heiß und potenziell sehr kostspielig war, berief man viele Experten. 1951 schlug Hurst auf der Basis seiner Forschungsergebnisse eine
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