Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
mich wie viele ähnliche Dinge dieser Art zu dem Schluss, dass die blinde Loyalität der Branchenökonomen gegenüber Bacheliers Theorie von 1900 zu tief verwurzelt und deshalb wohl nicht zu überwinden war. Also trat ich einfach beiseite. Ganz egal, was ich sagte oder tat, es würde harte Kritik nach sich ziehen. Ich hatte die akademische Welt Frankreichs zugunsten eines amerikanischen Industrielabors verlassen – was ein höchst riskantes Glücksspiel war – und damit bewiesen, dass ich bereit war, kontroverse Positionen einzunehmen. Doch damals konnte ich es mir nicht leisten, als Neinsager dazustehen. Also schluckte ich alles hinunter und zog weiter. Schon bald sollte ich ein anderes, weniger politisch beladenes Problem angehen: Turbulenzen in Flüssigkeiten und ihre Erweiterung auf eine größere Skala, die gemeinhin als Wetter bezeichnet wird.
Die orthodoxe Finanzlehre gründet sich auf zwei kritische Annahmen in Bacheliers Modell: Preisänderungen sind statistisch voneinander unabhängig, und sie folgen einer Normalverteilung. Wie ich in den 1960er-Jahren vehement argumentierte und viele Ökonomen mittlerweile anerkennen, zeigen die Tatsachen etwas anderes. Erstens sind Preisänderungen nicht voneinander unabhängig. Meine und andere Forschungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte zeigen, dass viele Folgen von Finanzkursen eine Art »Gedächtnis« aufweisen. Wenn Preise heute heftig nach oben oder unten ausschlagen, existiert eine messbar höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie am nächsten Tag ebenso stark schwanken werden. Es handelt sich nicht um ein wohlerzogenes, vorhersagbares Muster der bei Ökonomen beliebten Art – also beispielsweise nicht um das periodische Auf und Ab vom Boom zum Absturz und zurück, mit dem die Lehrbücher den normalen Geschäftszyklus nachzeichnen. Wie meine spätere Arbeit zeigen sollte, liegt hier ein komplexeres, langfristiges Gedächtnis vor – eines, das fraktal analysiert werden kann. Zweitens ist die Verteilung von Preisänderungen nicht »normal«. Die hergebrachte Theorie sagt, dass die gemessenen Änderungen eines Tages, einer Stunde oder eines Monats gegenüber dem jeweils nächsten mit überwiegender Mehrheit sehr klein sein sollten, während nur wenige Tage große Sprünge zeigen – die »Ausreißer« auf der normalen Glockenkurve, die üblicherweise für ihre grafische Darstellung verwendet wird. In Wahrheit kommt es zu weit mehr großen Änderungen, als es der Standardtheorie zufolge geben dürfte – es sind sehr viel mehr Tage, an denen die Kurse abstürzen oder in die Höhe schießen.
Ehe Cootner all diese »unbequemen« Daten unter den Teppich kehrte, hätte er prüfen sollen, wie viel Information er damit vernichtete. In den 1960er-Jahren war das schwer zu illustrieren, aber inzwischen ist das sehr einfach geworden. Neben einem echten Kursindex kann man prüfen, was in jedem Moment geschehen wäre, wenn Cootner die x größten Kursstürze über x Tage unter den Teppich gekehrt hätte. Der Index hätte sich mehr oder weniger verdoppelt. Anders gesagt, die von Cootner verworfenen wenigen größten Differenzen und die von ihm behaltenen Unterschiede sind gleich bedeutsam. Die folgende Abbildung zeigt das sehr deutlich. Die untere Kurve steht für den tatsächlichen Kursindex von Standard & Poors 500 im Zeitraum von 1990 bis 2005, die obere gibt die gleichen Daten ohne die zehn höchsten täglichen Veränderungen wieder.
© Mit freundlicher Genehmigung von Nassim N. Taleb
Ein zweiter wichtiger Fehltritt Bacheliers war noch ernster, und es dauerte Jahre, ihn zu korrigieren. Alle, die sich um Kursschwankungen kümmerten, wussten stets von Geschäftszyklen. Die Analyse, die ich 1962/63 durchführte, vermengte die Phasen niedriger und hoher Preisvariabilität. Ein realistischeres Preismodell musste tiefer in den Daten schürfen. Ein üblicher Ausweg führt die Vorstellung von Zyklen ein und unterstellt, dass die verschiedenen Phasen eines Zyklus unterschiedlichen Regeln folgen. Leider ist die zeitliche Aufschlüsselung von Zyklen stets mysteriös und unzuverlässig gewesen und erst lange nach dem Geschehen erkennbar.
Die ersten kritischen Auseinandersetzungen mit Bachelier waren ausschließlich mein Werk, und über Jahrzehnte hinweg habe hauptsächlich ich die weitere Entwicklung vorangetrieben. Nach angemessener Zeit konnte ich behaupten, Kursänderungen im Finanzwesen könnten durch ein Modell erklärt werden, das sich aus meiner Arbeit über fraktale Geometrie
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