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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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aufeinanderfolgende Kursänderungen seien statistisch unabhängig. Ich musste ihn davon überzeugen, dass ich nie eine solche Unabhängigkeit behauptet hatte und er in Wahrheit eine viel schwächere Hypothese überprüfte – eine, die zunächst 1900 in Bacheliers Dissertation dargelegt wurde und unter der Bezeichnung »Martingale-Bedingung« bekannt geworden ist. Fama sah das ein, korrigierte seine früheren Behauptungen, ersetzte den mysteriösen Ausdruck »Martingale« durch die zutreffende Bezeichnung »effizienter Markt« und brachte seine Karriere voran, indem er zu dessen Verfechter wurde. Diese Hypothese ist in der Tat bequem und gelegentlich als erste Annäherung oder Illustration nützlich. Sie hat sich jedoch nicht durch sorgfältigere Überprüfung verifizieren lassen – und dafür, dass Fama ihr Herold ist, sollte man ihn weder tadeln noch rühmen.
    Er orientierte sich weiterhin an meiner Ausrichtung und war Doktorvater mehrerer exzellenter Dissertationen. Doch dann kehrte er in den Pferch zurück. Als einer der Anführer beim Rückfall seines Gewerbes in die strikteste, durch ein neues Vokabular zum »Wundermittel« verklärte Orthodoxie Bachelier’scher Prägung machte er eine glänzende Karriere. Es war ganz natürlich, dass die Graduate School of Business der University of Chicago bald aufhörte, mich einzuladen.
    Anlässlich einer Versammlung von in den USA lebenden Trägern des Ordens der Légion d’honneur liefen Shultz und ich uns noch einmal über den Weg. Er erinnerte sich an die Episode und meinte, sie habe ein gutes Ende gefunden. Möglicherweise war da der Diplomat auf seinem Parkett. Shultz war auf dem Weg, die Leitung des riesigen kalifornischen Bauunternehmens Bechtel zu übernehmen, und wurde dann nacheinander Nixons Leiter des Office of Management and Budget, Arbeitsminister und Finanzminister. Als US-Präsident Reagans Außenminister brachte er schließlich sein diplomatisches Geschick auf der Bühne der Welt ein.

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Bei IBM, Harvard, MIT und Yale von den Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften über Mathematik und Physik zu den Fraktalen
    (1963–1964)
    Ja, man hat mich gewarnt. Die Überschrift des Kapitels scheint keinen Sinn zu ergeben. Wie sollte sie denn die Realität überhaupt widerspiegeln? Erstaunlicherweise entspricht sie jedoch annähernd diesem Abschnitt meines Lebens. Bei Vortragsreisen beendete der Vorsitzende die übliche Begrüßung allzu oft mit der Frage, in welcher Eigenschaft ich denn nun hier vor ihnen stünde. Tatsächlich ist diese Überschrift nur eine Zusammenfassung. Zahlreiche zusätzliche Gebiete, mit denen ich mich befasst habe, unterscheiden sich ebenfalls zutiefst voneinander, haben aber eine Eigenschaft gemeinsam, die mir mehr bedeutet als alle anderen: die Rauheit.
    Warum verwende ich statt des unhandlichen Begriffs »Ingenieurswissenschaften« nicht die elegantere Bezeichnung »angewandte Naturwissenschaften?« Einmal, weil ein einziges Wort besser ist als zwei. Aber vor allem deshalb, weil ich auf etwas hinweisen möchte. Die Phänomene, die ich untersucht habe, sind schwer fassbar und noch nicht durch irgendeine richtige quantitative Wissenschaft abgedeckt, sei sie nun »rein« oder »angewandt«. Nehmen wir eine ferne Vergangenheit: Wassermühlen kamen lange vor der angewandten Wissenschaft der Flüssigkeitsmechanik; Wärmemaschinen gab es lange vor der angewandten Wissenschaft von der Wärme. Aktienbörsen kamen vor jeder Theorie auf, und es gab keine Theorie, auf die meine Arbeit über Finanzen »anzuwenden« gewesen wäre. Mein Ehrgeiz war realistischer – das heißt, eingeschränkter –, bezog sich aber auf etwas Wesentliches. Ich wollte eine durchgängig zuverlässigere Beschreibung bekannter Fakten liefern und folglich der Finanzwissenschaft aus ihrem trostlosen und problematischen Zustand heraushelfen. Das gilt auch für die hier geschilderten Entwicklungen: Kein existierender Wissenschaftskörper konnte ihnen beistehen.
    Was ich soeben gesagt habe, erklärt, warum ich keine Angst davor hatte, mich auf eine Vielfalt von Problemen mit technischer Ausrichtung einzulassen. Viele angewandte Wissenschaften zu meistern wäre ein müßiger Traum – vor allem für einen Außenseiter wie mich – und zudem ein Prozess, den man besser nicht überstürzen sollte.
    Parallel zu meinem ruhigen Dasein bei IBM führte ich ein kompliziertes Leben – ein Leben als Lehrer oder Forscher, den es kreuz und quer von Ort zu Ort oder von einem Gebiet zum

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