Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
dass von Gastdozenten nicht erwartet werde, irgendjemanden durchfallen zu lassen.
Als er später seine Semesterarbeit brachte, bat er darum, eine kurze Bemerkung loswerden zu dürfen. »Klar, legen Sie los!« – »Sir, wie ich Ihnen schon gesagt hatte, war ich überhaupt nicht für Ihren Kurs vorbereitet. Mein Aufsatz ist alles andere als gut. Aber das macht nichts; egal, welche Note Sie mir geben, meine Karriere wird davon nicht beeinflusst. Eines wollte ich Sie aber noch wissen lassen: In Ihrem Kurs habe ich etwas sehr Wichtiges gelernt. Man hatte mir gesagt, wissenschaftliches Material sei von Menschen gemacht, aber in allen anderen Kursen kam es mir so vor, als sei es von quietschenden Maschinen erzeugt worden. Bei Ihrem Kurs konnte ich zusehen, wie Wissenschaft gemacht wird. Thank you, Sir. Es war eine großartige Erfahrung, Sir. Good-bye, Sir.« Er schlug die Hacken zusammen und verschwand aus meinem Leben.
Äußerst bewegt und in der Überzeugung, dass er mir nichts vorgespielt hatte, dachte ich daran, wie mein Onkel Szolem seine eingefleischte Abneigung gegen »elegante Dozenten« geschildert hatte. Sie lassen alles als vollkommen durchsichtig und klar erscheinen, doch wenn man dann abends seine Notizen durchgeht, merkt man, dass ein kleines Detail vergessen wurde und dass ohne dieses Detail alles zusammenbricht. Szolem bevorzugte – und praktizierte – den Stil des Mannes, der ihn in Charkow in der Ukraine während des auf die Revolution der Bolschewiken folgenden Bürgerkriegs die französische mathematische Analysis gelehrt hatte. Serge Bernstein korrigierte sich ständig selbst; er schien das von ihm unterrichtete Material neu zu erfinden oder zumindest erstmals umfassend einschätzen zu können. »In der Folge schien er die Mathematik dann unter Schmerzen aus seinem Körper zu ziehen.«
Das Jahr 1963/64 markierte meinen erneuten Übergang von den Gesellschaftswissenschaften zur Naturwissenschaft. Unbedeutende Themen, die nur wenigen Spezialisten bekannt waren und die niemand verstand – weshalb sie als »Anomalie« bezeichnet wurden oder unter vielen anderen nichtssagenden Bezeichnungen liefen –, führten mich ins Zentrum eines entscheidenden wissenschaftlichen Gegenstands: Unterbrechungen (Intermittenzen) in der Turbulenz.
Keine feste Stelle
Viele Freunde hielten es anscheinend für sicher, dass die Abteilung für angewandte Naturwissenschaften in Harvard mir eine Professur in einem weiter gefassten Kontext als dem von Chicago anbieten würde. Auch Aliette und ich hegten die kühne Hoffnung, dass es so kommen würde. Es gab Gerüchte, die wieder einschliefen. Ich fragte nach und erfuhr, dass man mich in Betracht gezogen hatte. Doch meine übertrieben optimistischen Freunde hatten sich nicht so stark ins Zeug gelegt, wie das nötig gewesen wäre. Ein wahrscheinlicher Opponent war der herausragende Experte für Flüssigkeitsmechanik, George Carrier (1918–2002). Als ich ihm eine frühe Version meiner multifraktalen Beschreibung der Turbulenz erläuterte, erwiderte er, falls diese Richtung die Oberhand behalten sollte, würde ihn die Untersuchung der Turbulenz nicht länger interessieren.
Letztlich wurden meine Interessen und Leistungen in Chicago als absurd weitgespannt angesehen, in Harvard dagegen als absurd eng! Leider musste ich zugeben, dass diese Ansichten nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Ich erfüllte die spezifischen Anforderungen von Chicago nicht umfassend, bereitete mich aber darauf vor, mich durch viele andere Wissenschaftsgebiete zu bewegen.
In Voltaires Candide behauptet der stets optimistische Pangloss, in der besten aller möglichen Welten wende sich immer alles zum Besten. Wenn man davon ausgeht, dass es meine Bestimmung war, in den folgenden zehn Jahren die fraktale Geometrie zu entwerfen und auszuarbeiten, könnte Pangloss sagen, Chicago und Harvard hätten mir beide nicht das richtige Umfeld geboten. Dieses abgenutzte Argument würde die Folter preisen – als Möglichkeit, die Heiligkeit zu steigern. Und Harvard kam zu dem Schluss, die Schneise, die ich schlagen wolle, sei vergleichsweise schmal. Man sah aber dort nicht voraus, dass das Thema allgegenwärtig, offensichtlich und weithin einflussreich sein würde.
Nach 1964 hörte ich auf, mir Gedanken zu machen, ob IBM das angemessene Umfeld für mich sei, und begann mit der Arbeit. Was ich während des Jahrzehnts der Wunder in den 1960er-Jahren vollendete, sollte im Annus mirabilis von 1979/80 seinen
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