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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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wären solche Reisen in keiner Weise furchterregend, aber zur Zeit des Odysseus waren die Schiffe nicht dafür konstruiert, dem unvorhersagbar turbulenten Wetter zu trotzen, das einem auf langen Reisen begegnete. Das Problem der Turbulenz ist so schwierig, dass jeder kleine Fortschritt einen Grund zum Stolz bietet. Bei einem Seminar in Harvard analysierte Stewart Aufzeichnungen eines außer Dienst gestellten U-Boots, das er überwachte, als es langsam Richtung Vancouver fuhr und Daten sammelte. Es zeigte sich, dass die Turbulenz in dem durchfahrenen Meeresabschnitt sowohl räumlich als auch zeitlich ständig zu- und abnahm – er nannte das »Intermittenz«. Während seines Vortrags saß ich in der ersten Reihe und grinste von einem Ohr zum anderen – ich freute mich über das große Geschenk, das ich auf mich zukommen sah. Damals arbeitete ich über das Rauschen in Informationskanälen – es war der nächste Schritt nach meinem Aufsatz mit Jay Berger aus dem Jahr 1963. Die Daten passten wunderbar zu denen Stewarts, und es konnten die gleichen Methoden angewandt werden. Mein Kunststück, zwischen den Kopfschmerzen eines Ingenieurs und angeblich wilden mathematischen Kuriositäten eine Verbindung herzustellen, war nicht nur ein Glückstreffer gewesen!
    Jahrelang war das Bestreben, die Turbulenz ein wenig besser zu verstehen, eines meiner beliebtesten Mittel zur Selbstkasteiung gewesen. Ich machte mich mit einer weiteren Gruppe von Experten vertraut, die ich zuvor nicht gekannt hatte, und hörte bald auf, mich an ihnen zu orientieren. Meine Aufsätze ergänzten Bücher zu diesem Gegenstand.
    Als ich 1964 zu IBM zurückkehrte, wurde mir klar, dass die Hausdorff-Dimension, die ich zunächst bei Henry McKean in Princeton und später bei Paul Lévy kennengelernt hatte, inzwischen im Begriff war, aus dem Bereich der Kuriosität in die Realität zu wandern. Im Zusammenhang mit Preisen entsprach die Volatilitätsmessung der Hausdorff-Dimension. Im Kontext der Turbulenz entsprach die Dimension der Rauheit der Haussdorff-Dimension.
    Ich entwickelte ein multifraktales Modell, das die Intermittenz der Turbulenz behandelte und, wie sich herausstellte, auch für das Verständnis der Änderungen von Finanzkursen grundlegend war. Qualitative Merkmale wie das Gesamtverhalten von Kursen und auch viele quantitative Merkmale lassen sich mithilfe von Multifraktalen erhalten – und das zu außergewöhnlich niedrigen Kosten, was die Anzahl der Annahmen betrifft.
    Nach zwei Jahren in Harvard wollte man im Hauptquartier von IBM, dass ich einen Job an der Cornell University übernahm. Das war verlockend, doch die Cornell befindet sich in Ithaca im Staat New York. Aliette und ich waren dort oft zu Besuch gewesen, doch wir fürchteten die Isolation und beschlossen, nach Yorktown zurückzukehren. Eine sehr gute Entscheidung. Ich erlebte das warme Gefühl, nach Hause zu den Freuden einer altmodischen Kollegialität in einer weit offeneren und »akademischeren« Gemeinschaft als in Harvard zu kommen. Die Cafeteria hatte keine Konkurrenz in der Nähe, sodass man dort mittags sogar selbst mitgebrachte Speisen verzehrte. Besonders mochte ich das wechselnde und dankbare Publikum am sogenannten Physikertisch – an dem natürlich alle willkommen waren. Der Mathematikertisch war kleiner, homogener und weit weniger debattierfreudig. Die Physiker und ihre Freunde tauschten Neuigkeiten aus – selten auf lokale oder örtliche Politik bezogen, häufiger auf Wissenschaft, Forscher und auch auf Musik und Geschichte. Und ehrlich gesagt konnte ich nirgendwo sonst ein vielfältigeres und anerkennendes Publikum für meine Geschichten finden.

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Von IBM aus unablässig in Bewegung – von Ort zu Ort und von Fachgebiet zu Fachgebiet
    (1964–1979)
    Die Zeit von meiner Ankunft in Harvard bis zur Veröffentlichung von Die fraktale Geometrie der Natur stellt die mittlere Periode meines Lebens dar. Diese begann außergewöhnlich spät, weshalb ich ständig ein Gefühl großer Hast verspürte. Das führte dazu, dass ich in viele Richtungen aufbrach, die erheblich unterschiedlicher waren, als ich das für vernünftig oder machbar gehalten hätte.
    Verfügte ich über einen klaren Forschungsplan? Nur im Kopf und zumeist in einer Form, die nötigenfalls sofort ausradiert, verschoben oder geändert werden konnte. Andere hätten es vermutlich unerträglich gefunden, wie selten es mir gelang, das zu tun, was ich für mein Leben gern getan hätte. Stattdessen befasste ich

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