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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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jemand mit einem Physiker bekannt, der zu diesem Zeitpunkt Dekan im Bereich angewandte Naturwissenschaften war. Er schlug mir vor, mich 1964/65 wieder in Harvard unterzubringen. Doch zwei Umzüge nacheinander – zu IBM und dann wieder nach Cambridge – wären ein logistischer Albptraum geworden, der Aliette nicht gefiel.
    Wir einigten uns auf eine Alternative: Ich sollte 1963/64 in Cambridge weitermachen, aber ein paar Schritte nach Norden wandern – von den Ökonomen zu den angewandten Naturwissenschaften. Wenige Schritte quer durch Harvard genügten, um eine sehr andere Welt zu betreten. Als ich in der Wirtschaftsfakultät nach dem Raum für den Schreibbedarf fragte, stellte das Büro des Vorsitzenden eine Erstausstattung zur Verfügung und meinte, ich würde doch gewiss einen eigenen Briefkopf verwenden wollen. Bei den angewandten Wissenschaften gab es einen Raum für Schreibbedarf mit offen daliegenden Stapeln wie bei IBM. Dass mein Büro bei den Ökonomen ein eigenes Telefon hatte, war selbstverständlich. Bei den angewandten Naturwissenschaften teilte ich mir das Telefon mit drei oder vier ordentlichen Professoren einschließlich eines Nobelpreisträgers. Ein weiterer zusätzlicher Gast, dem es nichts ausmachte, das Telefon »in Beschlag zu nehmen«, zwang sie, ein neues gemeinsames Telefon einzurichten. Aliette und ich mieteten das Haus des bekannten MIT-Physikers Victor Weisskopf (1908–2002), der ein Sabbatjahr dazu nutzte, das CERN in Genf zu leiten. Auf dem Dachboden fanden sich Stapel französischer Comic-Hefte wie Tintin . Aliette las sie dem kleinen Laurent vor, ehe sie vorschlug, er solle sie doch selbst lesen. Das befolgte er, wodurch er Französisch zu lesen lernte. Später folgte Didier dem gleichen Weg.
    Weisskopf war ein charmanter und kultivierter Mensch. Zuletzt habe ich ihn in Alpbach in seiner Heimat Österreich getroffen. Da war er 84. Beim Mittagessen beklagte er sich, wie schwer es ihm falle, seine Erinnerungen zu Ende zu schreiben, und drängte mich, meine nicht zu früh zu verfassen – jedenfalls nicht, solange ich noch Wissenschaft betreiben könne. Ich versprach es ihm und kann jetzt nur hoffen, dass ich nicht zu lange gewartet habe.

Unterricht in Harvard
    In privaten Gesprächen mit dem Dekan kam ein einsemestriger Kurs über das Hurst-Rätsel der Beständigkeit in der Hydrologie zur Sprache. Die öffentliche Ankündigung führte jedoch den Standardtitel »Themen angewandter Mathematik« mit dem Hinweis, ich sei der Lehrer für den Herbst 1963.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Am ersten Tag wiederholte ich meine Heldentat vom Herbst 1962. Es hatte sich eine außerordentlich große Klasse eingefunden. Der Grund, weshalb der Dekan mit meinem Kommen so einverstanden gewesen war, wurde klar: Die Abteilung bot zu wenige Kurse an. Und es gab eine zweite Überraschung: Es tauchte kein einziger Hydrologe im Kurs auf. Der Großteil des Auditoriums war wegen meines mit Berger verfassten Aufsatzes über Fehler in Telefonübertragungswegen erschienen. Ein paar andere Studenten hatten sich komplett durch Harvards mageres Angebot für Elektroingenieure gearbeitet. Und dann gab es da noch einige Postdoktoranden und ältere Forscher.
    Mein Material über Telefonfehler war für ein Semester ein wenig knapp geraten, aber ein guter Soldat (oder Schauspieler, falls jemand den Begriff vorziehen sollte) sagt nicht »Ich kann nicht«. Folglich berichtete ich bei vielen Vorlesungen über die seit der letzten Sitzung geleistete Arbeit – die ich oft erst am Morgen vor dem Unterricht fertiggestellt hatte. Eine schreckliche, aber sehr wirkungsvolle Stimulation. Nur einmal war ich gezwungen, ein paar Minuten vorher in den Seminarraum zu schleichen und an die Tafel zu schreiben: »Aufgrund unvorhergesehener Umstände fällt die heutige Sitzung aus.« Ein anderes Mal forderte ich die Studenten gleich am Anfang auf, die beiden Sitzungen der letzten Woche zu vergessen – weil zehnminütige Ersatzlösungen, die ich übers Wochenende entwickelt hatte, einfacher waren und auch weiter reichten.
    Ein Student, ein Marineoffizier, musste seine Abkommandierung nach Harvard abkürzen und sich in ein paar Monaten zum Dienst auf einem U-Boot melden. Um den Regeln zu entsprechen, benötigte er noch einen Schein, hatte aber schon alle Lehrangebote Harvards ausgeschöpft, die für ihn infrage kamen. Obwohl er nicht vorbereitet war, bat er, als »Härtefall« angenommen zu werden. Ich willigte ein und versicherte ihm,

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