Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
in der dunklen, stark verrußten gotischen Abteikirche verborgen. Die das Museum tragende Institution wurde 1794 gegründet. Ihr Name, Conservatoire National des Arts et Métiers (CNAM), ist eine altmodische Bezeichnung, die aber alles aussagt: Hier bewahrt die Nation die Originale der größten Errungenschaften ihrer größten praktischen Denker auf. Dieser erste Besuch des CNAM hinterließ tiefe Spuren, und ich lege Wert darauf, immer wieder einmal zurückzukehren – als Pilger zu meiner Kindheit.
An unserem dritten Sonntag in Paris nahm Vater uns mit zum Akademikerviertel der Rive Gauche, dem Quartier Latin am steilen Abhang des dem Pariser Schutzheiligen Sainte Geneviève gewidmeten Berges. Wir sahen alles, was dazugehört: den Boulevard Saint-Michel, den Jardin du Luxembourg, die Türen der Sorbonne und anderer Universitäten, die Bibliothèque Sainte-Geneviève und das Panthéon, jenes als »große Geste« gemeinte Gebäude. Besonderen Wert legte Vater darauf, hinter dem Panthéon an dem kleinen und verschwiegenen Pförtnerhaus vorbeizugehen, das in verblassten Goldbuchstaben auf die
ÉCOLE POLYTECHNIQUE
hinwies. Mittlerweile ist die Hochschule umgezogen, doch die Aufschrift ist geblieben. Vater war im siebten Himmel, als ich neun Jahre später von der Hochschule eingeladen wurde, diese Schwelle tatsächlich als Student zu überschreiten. Wie die CNAM geht die Schule auf das Jahr 1794 zurück. Lange nach Vaters Tod war ich anlässlich des 200-jährigen Jubiläums dort Ehrengast.
Dieses Wiedersehen mit Vater und das Hinführen zu den markanten Punkten von Paris fallen mir häufig wieder ein. Auch das geht mir jedes Mal wieder zu Herzen. Wer könnte es wagen, einen Mann zu kritisieren, der verglichen mit seinem jüngsten Bruder so wenig erreicht hatte? Vater machte seine Frau und seine Söhne mit dem bekannt, was für ihn zu den bewundernswertesten und verheißungsvollsten Dingen auf Erden gehörte. Geografisch waren sie nur Schritte von unserer Behausung entfernt, kulturell dagegen lagen sie jenseits eines breiten und tiefen Abgrunds – und er wünschte inständig, dass seine Söhne ihn überquerten.
Er muss auch das Bedürfnis verspürt haben, sich seinen Söhnen und seiner Frau nach zwanzig Jahren wieder stärker anzunähern. Fünf lange Jahre hatte er sich nur wenige Besuche in der Heimat leisten können, und zuvor, in Warschau, hatten ihn die Bemühungen, sein Geschäft über die Depression zu retten, aufgezehrt.
Jeder Tag war in jeder Hinsicht ein völliger Neubeginn.
Das Elendsviertel Belleville im 19. Pariser Arrondissement
In Paris konnte Mutter nicht als Zahnärztin praktizieren, und so wurde jeder Centime für das neue Geschäft benötigt, das Vater aufbaute. Bevor wir nachkamen, hatte Vater eine passende Behausung in einem Elendsviertel namens Belleville (schöne Stadt) gefunden – eher eine Unterkunft als eine Wohnung.
Die kitschigen Bezeichnungen vieler Elendsviertel dienen zumeist kommerziellen Zwecken. In diesem Fall jedoch handelte es sich um ein altes Dorf nordöstlich des Stadtzentrums auf dem sonnigen Südwesthang eines steilen Hügels direkt außerhalb der Befestigungsanlagen, an denen Paris bis 1860 endete. Belleville liegt am östlichen Rand und damit ganz unten, was das Prestige betrifft – und es hat absolut nichts seinen Namen Bestätigendes an sich. In Paris weht der Wind wie in London vorwiegend aus dem Westen, weshalb der westliche Stadtrand die gute Gegend ist.
Die Rue de Chaumont war (und ist) eine kleine Sackgasse inmitten eines heruntergekommenen Sektors, der seit Langem für eine urbane Erneuerung vorgesehen war – sie erfolgte erst Jahrzehnte später. Unter den Hausnummern 5–7 erstreckte sich ein sauberes und relativ schönes Gebäude. Nachdem Vater darauf gestoßen war, redete er mit dem Hausbesorger, der eigentlich der Besitzer war, und letztlich wurde er einer Prüfung unterzogen. Nachdem der Eigentümer sich vergewissert hatte, dass wir kein heimatloser Abschaum, sondern heruntergekommene Mittelklasse waren, überließ er uns eine Wohnung zur Miete: zwei schmale Räume, fast wie Eisenbahnwaggons, beide von der Straße bis zum Hof gehend. Ein Raum war das Elternzimmer mit Esstisch und Bett. Der andere war das Zimmer der Söhne, in dem Schreibtische und Betten standen. Kurz darauf mussten wir noch für Mutters älteren Bruder Platz schaffen, der aus Litauen geflohen war. Er war krank und lebte nicht mehr lange. Unsere Küche hatte Schrankformat, dazu kam auf
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