Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Während der Fahrt durch Nazideutschland wurde er verplombt, sodass niemand hinein oder hinaus konnte.
Am Gare du Nord in Paris wartete Vater mit seiner Schwester, Tante Fanny, die in der Nähe wohnte. Es war eine gefühlvolle, doch einigermaßen formelle Begrüßung. Um sich Vater anzuschließen und ihren Kindern eine Zukunft zu garantieren, hatte Mutter ihre schöne Wohnung, Ansehen und Einkommen einer etablierten Medizinerin und – alles in allem – eine Welt aufgegeben, in der sie tief verwurzelt, bekannt, respektiert und unabhängig gewesen war. Mit ihren 50 Jahren hatte sie sich dafür entschieden, als sehr einsame Ausländerin zur Hausfrau zu werden, die in einem Slum wohnte. Diese Bürde ihrer Entscheidung geht mir noch immer zu Herzen.
Sie traf ihre Entscheidung »kalt«, aufgrund rationaler Überlegung, zwei volle Jahre bevor Hitlers Armee auf ihrem Weg nach Warschau erst in Wien, dann in Prag und schließlich in Paris einmarschierte.
Als meine Eltern mit klarem Blick und Entschiedenheit ihre tiefe Verwurzelung in einer Gemeinschaft aufgaben, die sich nur wenige Jahre später in Rauch auflösen sollte, retteten sie uns alle und verdienten sich so unsere äußerste Dankbarkeit. Seine Wurzeln zu kappen ist jedoch nie einfach – nicht einmal unter optimalen Bedingungen. Die letzte Gemeinschaft, bei der ich mich nicht fragen musste, ob ich wirklich dazugehörte, war die jüdische Gemeinde meiner Kindheit in Warschau.
Jenes Frankreich, das mich bald zutiefst prägen sollte, stand kurz davor, von einem Orkan erfasst zu werden, einen Zusammenbruch zu erleben und dazu eine fremde Besatzung. Auch 1936 war Frankreich im Begriff, von einem heftigen Bürgerkrieg verschlungen zu werden, nicht so wild wie die Religionskriege und die Französische Revolution, aber auch nicht gänzlich verschieden davon.
Vater zeigt seiner Familie das Beste von Paris
An unserem ersten freien Abend in Paris unternahmen wir einen langen Spaziergang vom Osten der kleinen Leute bis zum Westen der besseren Leute, der am Arc de Triomphe endete. Die geringe Zahl der Pferde und die vielen Autos brachten mir die Erkenntnis, dass Autos, sobald sie in Paris in den Ruhestand geschickt worden waren, in Warschau ein neues Leben begannen. Ich lernte, wie man Renault ausspricht. In Warschau hatte man das zu Renlaut »assimiliert«.
An den folgenden Sonntagen wurden wir in die Wunder eingeführt: den Louvre, das alte naturwissenschaftliche Museum, das Quartier Latin. Warschau besaß sicherlich auch Museen, ich kann mich jedoch nicht erinnern, eines besucht zu haben.
Musik gehörte nicht zum Hauptprogramm, doch einige Zeit später besuchten wir im Théâtre de l’Odéon eine Aufführung von Ibsens »Peer Gynt« mit der Musik Edvard Griegs, insbesondere mit Solveigs Lied, das Mutter gern sang.
Vaters Lieblingsmaler war Tizian, und jeder neue Tizian, den ich seither sehe (verrußt in seiner Heimat Venedig oder schockierend sauber in London), bringt mir jenen ersten Besuch im Louvre wieder in Erinnerung. Als man anfing, griechische und römische Statuen auszugraben, und als seit Langem herrschende mächtige Dynastien damit begannen, große Kunst zu sammeln, hatte der Papst die erste Wahl, dann kam der französische König, gefolgt von englischen, russischen oder deutschen Königshäusern und Kunstliebhabern. Vermutlich ist das der Grund, weshalb die griechischen Statuen im Vatikanmuseum so unrealistisch »neu« erscheinen, während ihren Gegenstücken im Louvre eine Nase oder ein Arm fehlt und es der Verwandtschaft anderswo an noch viel mehr gebricht.
Anders als der Louvre ist das alte naturwissenschaftliche Museum an der Rue Saint-Martin nicht deutlich abgegrenzt, sondern geht in ein banales Einkaufsviertel über. Den Kern bildet das ehemalige Kloster Saint-Martin-des-Champs, eine Entsprechung des Londoner Klosters von St.Martin in the Fields, das auch daran erinnert, dass im mittelalterlichen Paris die Felder im Gebiet des heutigen Centre Pompidou begannen. Das erste Fahrrad (niedrig, aus Holz, ohne Pedale, mit den Füßen auf der Straße angetrieben), das erste Auto (ein von einer Dampfmaschine angetriebenes Monster, das angeblich den Entdecker der Thermodynamik, den Physiker Sadi Carnot, inspiriert hat), das erste wirklich sehr kurz fliegende Flugzeug (Clément Aders fledermausähnliche Apparatur), das erste Flugzeug, das den Ärmelkanal überflog (das von Louis Blériot) – diese und viele andere Wunder menschlichen Erfindungsgeistes waren
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