Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
Vom Netzwerk:
jedem zweiten Absatz zwischen den Stockwerken eine »türkische« Toilette für je vier Wohnungen. Wir hatten kein fließendes warmes Wasser und kein Badezimmer. Bei anderen benachbarten Häusern gab es von Immigranten wimmelnde Hinterhöfe, uns wurde allerdings dringend abgeraten, dort Gesellschaft zu suchen. Der Besitzer mochte ruhige Bewohner, die sich nicht im Hof herumtrieben. In Paris kannten wir kaum jemanden, und so stürzte unser Sozialleben über Nacht von dem einer großen, weitläufigen Familie auf beinahe null ab.
    Vater hatte einen Ort gewählt, der einen kurzen Spaziergang vom Parc des Buttes Chaumont entfernt lag, ein erstaunliches Wahrzeichen, das propere Pariser aus dem schönen Westen der Stadt kaum besuchen würden. Die Stelle war lange Zeit als praktischer Steinbruch für Paris genutzt worden. Die den Park durchquerende Linie der Metro verläuft nicht im Tunnel, sondern auf einer in einem Geländeeinschnitt liegenden, auf Pfeilern mit soliden Felsfundamenten ruhenden, überdachten Brücke. Die Architekten des Parks haben im späten 19.Jahrhundert das vergammelte Terrain in ein Schmuckstück verwandelt: ein See mit einer Insel, darauf ein hoher, mit Beton verkleideter »Berg«, dessen Spitze ein pseudogriechischer Tempel mit Panoramablick ziert, der je nach Blickrichtung Scheusslichkeiten und Schönheiten vor Augen führt. Der Park wurde so pingelig sauber gehalten, dass wir dort ebenso spielen konnten wie zuvor im Sächsischen Garten in Warschau.
    Die breiten Rasenflächen waren mit einander teilweise überlappenden, etwa ein Sechstel eines Kreisbogens ausmachenden Bögen eingezäunt, deren merkwürdig knubbelige Oberfläche mir mysteriös vorkam. Viele Jahre später, bei meinem ersten Japanbesuch, bekam ich sehr ähnliche Bögen zu Gesicht – aus Bambus! Offensichtlich hatten die Pariser Planer die Textur von Bambus in dauerhafterem Gusseisen nachempfunden. So werden die Buttes Chaumont zwar als Englischer Garten bezeichnet, in Wahrheit aber ist die Anlage zum Teil japanisch inspiriert. Das gilt auch für den entsprechenden Park auf der Rive Gauche, den Parc Montsouris. Ganz in dessen Nähe sollte ich viele Jahre später meine erste Wohnung in Paris kaufen.
    Nach dem Krieg blieb meine offizielle Heimatadresse Rue de Chaumont 5–7, auch wenn ich dort nicht mehr wohnte. Als ich das letzte Mal dort war, war die unmittelbar um den Parc des Buttes Chaumont gelegene Gegend zum solide bebauten, durchaus eleganten Gebiet geworden. Auch die Rue de Chaumont hat sich verbessert, doch unser altes Haus hat sich nicht sehr verändert.
    Zurück zu der winzigen Bleibe. Als Mutter sie das erste Mal betrat, schluchzte sie hemmungslos. Am nächsten Tag hatte sie sich und den Haushalt wieder im Griff. Eltern und Söhnen wurde verboten, Polnisch zu sprechen, was unglaublich gut funktionierte. Mutter polierte ihr (bereits sehr gutes) Schulfranzösisch auf und entlieh Bücher bei jeder der ausgezeichneten öffentlichen Bibliotheken des Bezirks. Innerhalb kürzester Zeit schrieb Mutter fast fehlerloses Französisch und sprach es mit nur schwachem Akzent. Meine Eltern entsprachen nie dem Klischee der Einwanderer, die für die Kommunikation im neuen Land auf ihre Kinder angewiesen sind.
    Als Mutter zum ersten Mal einkaufen ging, war sie schon vorgewarnt worden, dass die Pariser unverpacktes Brot in der bloßen Hand trügen. Ebenso schockiert war sie jedoch, als sie sah, dass in der engen Avenue Secrétan inmitten des heftigen Verkehrs Fleisch auf offenen Auslagen angeboten wurde. Es sah nicht gerade appetitlich aus, war aber in Ordnung, und sie gewöhnte sich daran. Da man in Warschau ständig Angst vor Epidemien hatte, achtete man in den dortigen Läden weit mehr auf Hygiene als in Paris. Viel später erfuhr ich von einem weiteren Grund. Vor der Einführung regelmäßiger Kühlung lagen Schlachthäuser in der Nähe guter Wohnquartiere. Das Fleisch wurde zunächst dort verkauft, dann gesellten sich die unverkauften Stücke die Stufenleiter abwärts zu der weniger begehrten frischen Ware. Wenn das Fleisch in den Elendsvierteln ankam, sah man ihm seine Reise an.
    Eines Tages schleppte Vater eine sehr veraltete mehrbändige Enzyklopädie von Larousse an und dazu noch gebundene Ausgaben veröffentlichter Nachträge aus Jahrzehnten. In kürzester Zeit hatte ich beides von vorn bis hinten gelesen.
    Als der deutsche Vormarsch auf Paris das Debakel vom Mai 1940 auslöste, gaben meine Eltern alles auf und marschierten

Weitere Kostenlose Bücher