Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
meilenweit, um zu ihren Söhnen in Tulle zu kommen, wohin wir zu unserer Sicherheit gebracht worden waren. Kaum war Paris 1944 befreit, eilte Vater dorthin zurück. Unsere alte Mietwohnung war vermietet, aber ein anderer Mieter hatte zu lange gezögert und war kurz vor der Befreiung deportiert worden. Wir konnten seine Wohnung zumindest so lange beziehen, bis er zurückkommen würde. Er kam nicht zurück. Als Mutter in der Küche eine Fliese putzte, stellte die sich als lose heraus. Dahinter war die Nachprägung einer 20-Francs-Goldmünze versteckt, wie sie während der Herrschaft des Kaisers Napoleon III. (1852–1870) in Umlauf gewesen war. Hätte der Vormieter noch Zeit gehabt, sie mitzunehmen, wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, damit sein Überleben zu sichern.
Französische Grundschule
Bei meiner Ankunft in Frankreich sprach ich das unvollkommene Französisch, das der unzuverlässige Onkel Loterman mir beigebracht hatte, und marschierte stracks in die örtliche Grundschule für Knaben in der Avenue Simon Bolivar 119 im 19. Arrondissement. Daneben lagen eine separate Mädchenschule und ein Kindergarten.
Der energische und kooperative Direktor hatte ausführlich mit meinen Eltern gesprochen und entschieden, dass Bruder Léon und ich leichter aufholen würden, wenn wir die vierte bzw. fünfte Klasse wiederholten. Also fing ich 1936 in der Klasse von Monsieur Poupard an. Nach der Hälfte des Schuljahrs wurden mein Bruder und ich befördert, und ich wechselte in die Klasse von Monsieur Leblanc. Beide Lehrer waren exzellent, über ihre Pflicht hinaus hilfreich, und ich werde sie nie vergessen.
Französisch als Pariser Dialekt
Französisch zu sprechen wurde zu einer interessanten Herausforderung. Ich erinnere mich, dass viele historische Daten auswendig zu lernen waren, darunter auch die Schlachten, die Napoleon in den 1790er-Jahren in Italien gewann. Sie erwiesen sich als echte Zungenbrecher, da »siebenundneunzig« französisch »quatre-vingt dix-sept« (vier-zwanzig zehn-sieben) heißt. In diesem Fall war Mutter gezwungen, mit mir zu üben.
Ich arbeitete mit großem Einsatz daran, und rasch sprach ich fließend, was wir aus guten Gründen für richtiges Französisch halten durften. In Wahrheit aber erlernte ich eine signifikant unterschiedliche Sprache. In Belleville sprach man eine in voller Blüte stehende Entsprechung des berühmten Londoner Cockney-Englisch, das sogenannte Pariserisch. Ein Beispiel: marrant (= erfreulich) und marron (= braun) sind in der Aussprache kaum auseinanderzuhalten.
In dem Pariser Gymnasium, das ich anschließend besuchte, sprachen alle Hochfranzösisch, das sich aus dem örtlichen Dialekt der Gegend von Touraine herausgebildet hat – wie das Italienische aus dem Toskanischen hervorging. Später wechselte ich an ein Gymnasium in Tulle. Dort hatten alle einen starken südlichen Akzent. Deshalb hatte meine französische Aussprache nie eine rechte Chance, sich zu stabilisieren, und ich habe einen Akzent beibehalten, der sich mit der Zeit verändert hat und nicht leicht einzuordnen ist.
Certificat d’Études
Ein Schuljahr nach der Ankunft schloss ich die Grundschule ab; ich bestand die gefürchtete Prüfung namens Certificat d’Études Élémentaires (etwa: Abschlusszeugnis der Elementarschule). Ob man bestand, hing von einem Diktat ab. Mehr als fünf Rechtschreibfehler zwangen den Schüler entweder dazu, die letzte Klasse zu wiederholen oder mit einem unvollständigen Zeugnis abzugehen, doch ich kann mich nicht erinnern, auch nur einen Rechtschreibfehler gemacht zu haben.
Jedes Mal, wenn ich an diese erfolgreich bestandene Prüfung denke, erfreut es mein Herz. Fortuna ist blind und benötigt Hilfe. 1936 halfen meine Eltern, indem sie zur rechten Zeit aus Polen fortzogen. 1937 war ich aufgefordert, diese Hilfe zu leisten, und brachte es auch zuwege.
Zwei parallele Züge der öffentlichen Schulen Frankreichs
In Frankreich werden viele Entscheidungen in verstaubten Kammern des Erziehungsministeriums getroffen, wo scheinbar nebensächliche Details wichtige Programme verbergen und anhaltende politische Bedeutung haben können. Der nächste Abschnitt meines Lebens dürfte ohne ein wenig Geschichte des Erziehungssystems der damaligen Zeit schwer zu verstehen sein. Bis 1937 gab es zwei unterschiedliche Schulzweige. Obwohl sie als Primärschule und Sekundarschule bezeichnet wurden, waren sie tatsächlich sowohl parallel als auch getrennt.
Den Primärzweig begann man im Alter
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