Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
geworden sei. Sollte ich den gleichen Weg beschreiten? Sie diskutierten über die Vor- und Nachteile mehrerer Handelsschulen, aber Szolem wusste nichts über sie, weshalb die Debatte im Sand verlief. Kurz darauf brach der Krieg aus.
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Bitterarmes, gottverlassenes Hügelland: Vichy, das unbesetzte Frankreich
(1939–1943)
In meiner Erinnerung ist der Zweite Weltkrieg als Orkan gespeichert. Was ich in diesen Jahren gelernt – oder nicht gelernt – habe, hat mein späteres Leben weitgehend bestimmt.
Nach dem Kriegsausbruch 1939 gerieten der Norden und der Westen Frankreichs (einschließlich Paris) vom Mai 1940 bis 1942 unter direkte deutsche Kontrolle. Bruder, Eltern und ich verbrachten diese Zeit in Mittel- und Südostfrankreich – einem offiziell nicht besetzten Rumpfstaat, den alle als Vichy-Frankreich bezeichneten.
Bis 1943 lebten wir dort ganz offen – auffällig, aber unbedeutend – in einem kargen kleinen Ort namens Tulle mit etwa 15000 Einwohnern. Buchstäblich gerettet wurden wir durch enge Freunde Szolems – Nachkommen von armseligen Bauern und Dorfschullehrern, die Fortuna tapfer unterstützten. Mit zwei der Familien, die uns beim Überleben halfen, sind wir in Kontakt geblieben – mit den Eyrolles und den Roubinets, die ich noch näher vorstellen werde.
Unsere ständige Furcht war, dass ein hinlänglich entschlossener Feind uns den Behörden melden könnte, die uns in den Tod schicken würden. Das passierte einer sehr engen Pariser Freundin, Zina Morhange, die als Ärztin in einem nahe gelegenen Verwaltungssitz arbeitete. Ein anderer Arzt, der sich einfach der Konkurrenz entledigen wollte, hatte sie denunziert. Wie durch ein Wunder kam sie zurück; ihre Tochter hat ein gutes Buch über ihre Geschichte geschrieben.
Wir entgingen diesem Schicksal. Wer weiß, warum? Zum einen kamen wir davon, weil meine perfekten Zeugnisse eine Angestellte der Präfektur in einen tiefen Konflikt stürzten: Einer endemischen Abneigung gegen die Leute aus Paris und die noch entfernteren Fremden standen die meritokratischen Ideale gegenüber, die während der Dritten Republik (1871–1940) hochgehalten wurden. In dieser sehr armen Region gehörte es zu den Träumen von einem guten Leben, staatliche Examina zu bestehen und dann fortzuziehen. Diese Angestellte, die Schwester eines Klassenkameraden, spielte göttliche Vorsehung. Die fremdenfeindliche Abneigung geriet ins Hintertreffen, die Meritokratie siegte, und sie ließ vorsätzlich unsere Akten verschwinden.
Unser Glück war, dass wir keine Konkurrenten waren und nicht wie Ausländer aussahen. Die systematischen Bemühungen meiner Eltern um kulturelle Anpassung hatten gewirkt; mein Bruder und ich hörten sich fast wie Eingeborene an und sahen auch so aus.
Schreckliche, immer wieder unterbrochene Stürme
»Periodische Unterbrechungen« ist ein Ausdruck für den alten Scherz, das Leben in der Truppe bestehe aus unendlicher Langeweile mit fürchterlichen Unterbrechungen, regellos und unvorhersagbar. Während der Besetzung sah Frankreich schreckliche Ereignisse. In allzu vielen Ländern durchlebten Menschen nahezu ununterbrochene Schrecknisse. Die französische Vichy-Republik war eine grässlich durchmischte Kiste voller Überraschungen, doch wir hatten Glück. In meiner Erinnerung ist diese Periode nur abschnittsweise sehr stürmisch.
In Vichy wusste die eine Hand oft nicht, was die andere tat. Ein Zweig der Vichy-Regierung schwankte zwischen tiefer Missbilligung aller Ausländer, wie wir es waren, und ihrer aktiven Bekämpfung. Beispielsweise war es meinem Vater gesetzlich verboten, irgendeiner gewinnbringenden Tätigkeit nachzugehen – er hatte allerdings auch keine. Ein anderer Zweig desselben Regimes betrachtete uns dagegen als echte Flüchtlinge aus Paris, die nicht nach Hause zurückkehren konnten. Damit hatten wir ein Recht auf öffentliche Hilfen: Tische, Betten und einige Haushaltsgeräte, vielleicht Mietzuschüsse und sogar ein bisschen Geld. Am besten war, dass die Hilfe medizinische Behandlung einschloss, die anscheinend keinen Beschränkungen unterlag – und die Ärzte in Tulle waren großzügig mit Hausbesuchen in unserem Elendsquartier. Zusätzlich muss wohl Geld gekommen sein – von Hilfsorganisationen und auch von Vettern in Amerika, die es sich nur schwer leisten konnten und sich ewige Dankbarkeit verdient haben. Später, als ich allmählich auf die vierzig zuging, widmete ich meine Arbeit den Erscheinungen, die man als periodische
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