Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
von sechs Jahren in den Écoles primaires élémentaires , wie ich sie ein Jahr lang besuchte. Das entsprechende Zeugnis Certificat d’Études wurde frühestens im Jahr des 13.Geburtstags eines Schülers ausgestellt.
Die als Sekundarschule bezeichnete Schulrichtung begann man im Alter von sechs Jahren mit Vorbereitungsklassen. Die Klassen waren rückwärts nummeriert, beginnend mit der 11. Klasse. In der sechsten Klasse, zwei Jahre vor dem Mindestalter für das Certificat d’Études, fing das eigentliche Gymnasium an, das bis zur ersten Klasse ging. Am Ende folgte eine entscheidende Trennung – in einer Abschlussklasse mussten die Schüler zwischen Mathematik (also Naturwissenschaften) oder Philosophie (Humanwissenschaften) wählen.
Diese beiden parallelen Züge waren eng mit dem Sozialstatus der Eltern verknüpft, und Übergänge von einem Zweig zum anderen kamen, wie beabsichtigt, selten vor – auch in vielen anderen Ländern wird soziale Mobilität auf ähnliche Weise verhindert. Revidiert wurde dieses System 1936, als Léon Blum (1872–1950) französischer Premierminister war, ein Dandy, der damals mangels Konkurrenz Führer der gemäßigten Sozialisten wurde. Er führte einen zweiwöchigen Urlaub für alle ein, und sein Erziehungsminister Jean Zay vereinte diese parallelen Schulzüge. Zay wurde angefeindet und verhasst und während der deutschen Besatzung ermordet. Seine Absichten waren bewundernswert, doch es ist nicht einfach, ein ungerechtes, aber stabiles System zu zerschlagen: Das französische Bildungssystem wird unablässig weiter »reformiert«.
1937 wechselte ich – das war ein entscheidender Bestandteil der Pläne meiner ehrgeizigen Eltern – auf ein Gymnasium. Das nächstgelegene Pariser Gymnasium, das Lycée Voltaire, war erst kurz zuvor aus einer Handelsschule hervorgegangen und (inoffiziell) dafür bekannt, relativ unterqualifizierte Lehrer zu beschäftigen. Deshalb entschieden wir uns für das zweitnächste im Westen, das Lycée Rollin – mittlerweile heißt es zu Ehren eines im Zweiten Weltkrieg zum Widerstandshelden gewordenen Lehrers und Märtyrers Lycée Decour.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Die Ausbildung, die ich dort in den folgenden zwei Jahren erhielt, war seltsam, aber hervorragend. Was die akademischen Fächer anging, hatte ich einen großen Vorsprung; ich las und träumte ganz für mich allein und war insgesamt nicht unbedingt an die Schule gebunden. Deshalb spielte die berüchtigte Strenge des Systems keine Rolle. Besonders hervorzuheben ist, dass wegen der nur für wenige erreichbaren Universitätskarrieren Leute, die heute Doktorarbeiten betreuen würden, 11-Jährige unterrichteten. Sie verwendeten sehr viel mehr als den mir zustehenden Anteil ihrer Zeit auf mich, oft unter dem recht fadenscheinigen Vorwand, ich möge doch der Klasse meine breiteren Erfahrungen zugutekommen lassen. Die Schwachstelle war der Sportunterricht; hier erinnere ich mich nur noch an einen engen Hof, wo wir, wenn das Wetter es zuließ, Weitsprung zu lernen versuchten.
Ein großartiger Lehrer und Stadtführer
Der Lateinunterricht begann mit grässlich langweiligem Stoff: Cäsars knochentrockene Schilderungen seiner Zeit als General – ohne jede Erwähnung der Millionen Gallier, die er töten oder versklaven ließ. Latein begann ich erst zu mögen, als wir zu den Dichtern oder zu dem Historiker Tacitus kamen. Ein seltener und später Nutzen des jahrelangen Lateinunterrichts war, dass er mir half, auf korrekte Weise neue Wörter zu prägen … wie Fraktal .
Mein Französisch- und Lateinlehrer in der Sexta war Gilbert Rouger. Er war nicht nur ein ausgezeichneter Lehrer, sondern hatte auch eine Sammlung von Gedichten des Poeten Gérard de Nerval (1808–1855) herausgegeben. Monsieur Rouger ist mir aus einem weiteren Grund unvergesslich geblieben: Seine wahre Liebe galt Paris. Jeden Sonntag pflegte er durch eines der alten Viertel zu spazieren, und nachdem er sich mit den besten Ansichten in der Stadt seines Herzens vertraut gemacht hatte, begann er regelmäßig wieder von vorn. Er lud seine Schüler ein, sich ihm bei seinen Spaziergängen in Paris anzuschließen. Monsieur Rougers Wissen war phänomenal und ging weit über alles hinaus, was man in Karten, Reiseführern und klassischer Literatur finden konnte. Seine Lektionen sind mir sehr nützlich gewesen, insbesondere bei drei Gelegenheiten, die ich mit einem kurzen Sprung in die Zukunft schildern möchte.
Im Sommer 1945, nachdem die
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