Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Alliierten in Europa gesiegt hatten, beschlossen die USA, ihre Truppen rasch zurück in die Heimat zu verlegen. Das führte zu einem gewaltigen Transportstau und demzufolge zu der Notwendigkeit, den in der Nähe von Paris kasernierten Soldaten eine Beschäftigung zu bieten. Also meldete ich mich freiwillig. Als Dolmetscher und Stadtführer würde ich bezahlt und überdies nicht nur ernährt, sondern auch in die Lage versetzt werden, für Mutter und Vater ausreichend Nahrungsmittel »abzuzweigen«. Im Paris von 1945 schmeckte Büchsenfleisch köstlich. Ein energischer Programmchef prüfte mein gesprochenes Englisch und meine Empfehlungsschreiben, nahm mich begeistert auf und gab mir eine Reihe von Aufgaben.
Was die Monumente und verborgenen Höfe anging, war ich eine wandelnde und redende Enzyklopädie. Meine erste Gruppe stellte eine Art Initiationsritus dar: Maulfaule und kriegsgestählte Vertreterinnen des Armeekorps erweiterten mein umgangssprachliches Vokabular, waren aber zu Tode gelangweilt von schmutzigen alten Gebäuden und enttäuscht, dass ich weder ihre Scherze verstand noch auf ihre Avancen einging. Sie machten sich bald auf die Suche nach vergnüglicheren Aktivitäten. Als Nächstes wurde mir das Justizpersonal eines Armeehauptquartiers zugewiesen. Alle waren Absolventen der »Ivy League« und mit dem Zeug aus den Reiseführern vertraut. Sie quetschten mich nach den wirklich guten Örtlichkeiten aus und wurden zu begierigen Schülern eines Stellvertreters von Monsieur Rouger. Sie hielten mich selbst dann noch auf Trab, wenn ich mich abzusetzen versuchte und nach Hause gehen wollte. Kein einziger langweiliger Tag.
Jahre später, in den 1950ern, als ich um Aliette warb, machte ich sie oft mit diesen klassischen Vierteln bekannt. Meine vorweggenommenen Schilderungen dessen, was gleich hinter der nächsten Ecke zum Vorschein kommen würde, waren dazu gedacht, sie zu beeindrucken – ich war weder mit einem Stadtplan noch mit einem Führer ausgerüstet –, und waren verblüffend genau, abgesehen von einer Situation. Der Palast, den ich als direkt hinter der nächsten Ecke liegend angekündigt hatte, war zwischen zwei Besuchen eingestürzt.
Noch viel später, im Jahre 1972, mieteten wir vier – Aliette, unsere beiden Söhne und ich – eine Wohnung in der Rue du Regard in Paris. Wochenlang gaben mir zwei Gebäude am anderen Ende dieser kurzen Straße Rätsel auf. Die Lektionen des Monsieur Rouger waren mir noch lebhaft in Erinnerung, doch ich quälte mich mit der Frage nach dem Baustil herum. War es vor oder nach 1715? Später Louis XIV. oder früher Louis XV.? Aber selbstverständlich besaß jeder Pariser in meiner Bekanntschaft ein Buch, das diese welterschütternden Fragen beantworten konnte. Wie sich herausstellte, war während einer kurzen Übergangszeit nicht viel gebaut worden. Das Schicksal hatte mich auf Beispiele von Bauten stoßen lassen, die abseits lagen, als zweitrangig angesehen wurden und aus einer der seltenen Perioden stammten, die Monsieur Rouger ausgelassen hatte.
Dunkle Wolken
Paris hatte unsere Familie wieder zusammengeführt. Im Vergleich zu Polen war das eine kolossale Verbesserung. Aber es gab keinen Grund, sich nun auszuruhen. Der 11.November, der Jahrestag des Waffenstillstands von 1918, wurde als Feiertag mit großem Pomp begangen. Wir gingen alle gemeinsam zu den Champs Élysées, um uns die traditionelle große Militärparade anzusehen. Was Ordnung und Präzision anging, konnten die Soldaten Frankreichs nicht mit den polnischen Soldaten mithalten, ganz zu schweigen von den im Stechschritt daherkommenden Deutschen. Ich erinnere mich noch genau an Vaters Unbehagen und schlechte Vorahnungen.
Meine Eltern waren darauf eingestellt, das Beste zu hoffen und dafür zu arbeiten – aber auch darauf vorbereitet, mit dem Schlimmsten umzugehen. Bald wurde klar, dass es zu Krieg kommen würde. Als eines Tages Szolem zu Besuch war, erwähnte er, sein Kollege am Collège de France, der Physiker Frédéric Joliot-Curie (1900–1958), habe in seiner Umgebung angedeutet, künstliche Radioaktivität könne zur Konstruktion gewaltiger Bomben geeignet sein. Wir wurden strikt ermahnt, das niemandem gegenüber zu erwähnen. Ich fügte mich, und hier berichte ich erstmals von dieser Episode.
Bei einem anderen Besuch Szolems wies Vater ihn in meiner Anwesenheit darauf hin, dass er, um überleben und seinen Geschwistern helfen zu können, auf ein Studium verzichtet habe und stattdessen Lehrling
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