Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
erklärte: »Das ist anscheinend ein kleiner Ulk – die Zeichnung eines virtuellen Schülers, die von außerhalb hereingeschmuggelt wurde. Ich würde mich freuen, wenn die realen Schüler aus der Kunstklasse ebenso gute Leistungen zeigten.« Ich stand auf und stellte mich vor.
Der geistige und körperliche Stress im Taupe war enorm, aber ich wurde damit fertig. Die wenigen Wochen in Lyon haben sich jedenfalls außerordentlich stark und nachhaltig auf mein Leben ausgewirkt.
6
Als Knecht bei Pferdezüchtern nahe Pommiers-en-Forez
(1944)
Nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 wurde das Lycée du Parc eiligst geschlossen. Alle wurden aus den Schlafsälen gescheucht und dringend aufgefordert, Lyon zu verlassen. Unser Engel erschien! Man wies Bruder Léon und mich an, uns bei einem Büro in der westlich von Lyon gelegenen Kleinstadt Roanne zu melden, wo man uns benachbarten Bauernhöfen zuweisen würde, während wir auf Anweisungen warten sollten.
Léon wurde auf seinem Hof zu anstrengender Arbeit angehalten – und er schaffte sie. Bei meinem lief es weniger gut. Er lag in der Nähe des kleinen Ortes St.André-les-Eaux in einer ehemaligen Vulkanregion nicht allzu weit von Vichy entfernt. Das sprudelnde Wasser enthielt viel Eisen und überzog Wasserhähne und Flusskiesel mit einer glatten, rostfarbenen Patina. Für die Arbeit mit Einstreu und Mist trug man aus Vollholz geschnitzte Holzschuhe an den nackten Füßen, und auf der Haut eines Neulings entstand, nachdem der Schorf abgefallen war, eine Art von Leder. Als mir eines Tages auch noch das Joch des Ochsenkarrens aufs Knie fiel und ich mich für mehrere Tage kaum bewegen konnte, erklärte mir mein Boss, ein freundlicher alter Bauer, er käme ohne meine Hilfe besser zurecht. Ich konnte ihm nicht widersprechen.
Als Nächstes schickte man mich zu einem abgelegenen Pferdehof. Ich sollte den Bus nach St.Germain-Laval nehmen und dann ostwärts über Pommiers-en-Forez hinaus durch eine sehr fruchtbare Landwirtschaftsregion zwischen Roanne und St.Étienne marschieren, damals ein wichtiges Bergbau- und Stahlzentrum.
Le Châtelard erreichte ich spät am Abend; ich wurde von einer üppigen Frau begrüßt, die sich am nächsten Tag als die Gräfin Suzanne de Chansiergues d’Ornano herausstellte. Le Châtelard hatte sie von ihrer Mutter geerbt, und hier lebte sie zusammen mit ihrem Ehemann – dem Grafen – und ihrem Vater, Monsieur de Rivière, der vielleicht 60 gewesen sein mag, aber an Arthritis litt und mir alt vorkam. Außerdem gab es noch ein paar Hausdiener.
Am ersten Tag erzählte man mir beim Mittagessen, dass sie Pferde züchteten – Tiere, mit denen ich seit meinem Sommer in Weißrussland nichts mehr zu tun gehabt hatte. An einer Stelle der Unterhaltung kam Leben in Monsieur de Rivière, und er legte weitschweifig los: »1913 hat mein Pferd Phoebus das Derby von Lyon gewonnen. Es war ein Traber.« Dann zählte er mehrere Generationen aus dem Stammbaum des Pferdes auf. Am Tisch achtete außer mir keiner auf ihn. Ich erfuhr, dass die hier lebenden Pferde anglo-normannische Halbblüter seien, ein feiner, aber schwieriger Mittelweg zwischen der außergewöhnlichen Schönheit (aber auch berüchtigten Zartheit) der englischen Vollblüter und der vermarktbaren Fähigkeit, zumindest bestimmte Arbeiten ausführen zu können. Die Kunst bei der Züchtung dieser Pferde bestand vor allem darin, von den Haras Nationaux, einem von der Regierung unterhaltenen Gestüt, einen Hengst auszuleihen – vom Vollblut abwärts bis hin zu gemischten Nachkommen. Châtelard war zu dieser Zeit auf zwei Zuchtstuten mit ihren Fohlen Rêveuse und Respectueuse heruntergekommen, beide kastanienbraun mit schwarzer Mähne und Schwanz.
Beim Abendessen wurde Monsieur de Rivière wieder lebhaft: »1913 hat mein Pferd Phoebus das Derby …« Ich unterbrach ihn und betete den Stammbaum des Pferdes fehlerlos herunter. »Also so was! Keiner hört mir je zu, Sie dagegen schon. Sie haben sich sogar alles gemerkt. Sie können kein so schlechter Mensch sein.«
Kurz darauf gestand mir Monsieur de Rivière, dass er einen Knecht für seine Pferde benötige, aber weil alle im Krieg seien, habe er nur die Wahl zwischen mir und einem Jules. »Jules weiß alles über Pferde, Sie wissen gar nichts«, sagte er. »Aber er ist ein Dieb, und Sie sehen ehrlich aus. Ich nehme Sie, und Sie können weiterhin mit uns am Tisch des Hausherrn essen.« Phoebus ist das griechische Wort für Sonne. Lange
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