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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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absolut Beste, was Frankreich in den Wissenschaften zu bieten hatte. An der nordöstlichen bzw. südlichen Seite des Panthéon im Quartier Latin lagen sie einander fast gegenüber.
    Sehr grob gesagt war die École Nationale Supérieure – auch Normale , Rue d’Ulm oder ENS genannt – eine Miniaturausgabe von Harvard, die man gelegentlich mit dem Spitznamen Gnouf (Knast) belegte. Von etwa 200 rigoros geprüften Kandidaten in Mathematik und Physik durfte sie im Studienjahr 1944/45 25 Aspiranten übernehmen. Viele von ihnen hatte der Krieg gezeichnet, doch das wurde nicht berücksichtigt. Das Zulassungskomitee hatte den Eindruck, das Niveau sei unannehmbar niedrig, und nahm schließlich nur 15 auf. Die ENS blieb klein, was ihr Ansehen steigen ließ; sie entwickelte sich zu einer Ausbildungsstätte für Forscher und Lehrer für die Universitäten und für Klassen wie die Taupe , die ich in Lyon besucht hatte. Im Jahr 1945 hing ihr Ruf mit dem Niveau des jeweiligen Fachgebiets zusammen – in Mathematik genoss sie ein hohes, in Physik ein niedriges Ansehen.
    Die École Polytechnique ist erheblich kleiner als das MIT. Sie wird allgemein als X bezeichnet, aber ich ziehe das zu meiner Zeit bei Studenten und Ehemaligen benutzte Wort Carva vor. Das ist eine Abkürzung von boîte à Carva (etwa: Carvas Kiste) und bezieht sich auf den lange als Dekan fungierenden Moïse Emmanuel Carvallo, eine besonders aktive und halbwegs mythische Gestalt.
    Seit Vater mir Paris gezeigt hatte, wusste ich, dass die Carva in der Rue Descartes 5 liegt. Von etwa 2000 bis 3000 Kandidaten des höchsten Leistungsniveaus wurden durch die Eingangsprüfung etwa 200 ausgewählt. Im Vergleich zur Normale konnte man die Carva sogar als entweder stärker diversifiziert oder nur schwach fokussiert bezeichnen. Jeder wusste, dass ihre Absolventen in vielen staatlichen Einrichtungen, privaten Banken und diversen Branchen an den Schalthebeln saßen. Nur wenige Absolventen waren Priester, Mönche, Schriftsteller oder Musiker geworden oder auch Politiker auf lokaler oder nationaler Ebene. Lange hatte die Carva eine Rolle als Militärakademie gespielt, doch das war weitgehend vorbei. Früh in ihrer ruhmreichen Geschichte hatte sie den größten Teil der französischen Naturwissenschaftler hervorgebracht. Darauf war eine längere Lücke gefolgt, doch seither ist die Tradition wieder aufgelebt.
    Wie brachte man eifrige Anwärter und begrenzt aufnahmefähige Hochschulen auf einen Nenner? Vor der Revolution wurden Ämter, die ein gutes Einkommen sicherstellten, vererbt, vom Souverän nach Lust und Laune vergeben oder gekauft. Dagegen suchen die Grandes Écoles ihre Studenten allein nach Leistung aus. Diese Prüfungen waren (und sind) das französische Gegenstück zu den bei »Wilden« praktizierten, vom Ansatz her grausamen Initiationsriten. Zur Vorbereitung gab es Paukkurse von jener Art, wie ich sie in Lyon am Lycée du Parc besucht hatte.
    Im Herbst 1944, als ich wieder in Paris angekommen war, wechselte ich als Internatsschüler an das Lycée Louis-le-Grand – von König Ludwig XIV. selbst so benannt, unterrichtete man dort die »crème de la crème«. Ich saß in der Klasse von Monsieur Pons, mit dem ich kaum sprach. Dafür paukte ich für mich allein. Die Examina fanden mit Verspätung im Dezember 1944 statt – je eine Woche schriftliche Prüfungen an der Normale und an der Carva – und endeten im Januar 1945 mit je einer Woche mündlicher Prüfungen an diesen Schulen.
    An der Normale dauerte ein Test in Mathematik so lange, dass die Prüfungsaufsicht eine kurze Pause verkündete und jeden Kandidaten mit einer Schale heißer Brühe stärkte. Später teilte man Texte in vielen verschiedenen Sprachen aus, von denen wir nach Belieben zwei zu übersetzen hatten. Englisch bot sich an, und dazu wählte ich Latein!
    Die Prüfungen waren so schwierig angelegt, dass üblicherweise lediglich der allerbeste Schüler einen Schnitt von über 16/20 erzielte. Durch Gerüchte erfuhr ich, dass die beste Leistung aller Zeiten, wie die von 1945, um 1885 herum von Jacques Hadamard, Großvaters hohem Gast bei jenem bedeutungsvollen Warschauer Abendessen im Jahre 1930, erzielt worden war.

Unerwarteter Triumph an der
Normale
und der
Carva
    Im Januar 1945 – zwischen dem schriftlichen und dem mündlichen Teil der berüchtigten Abschlussprüfungen, die in meinem Leben vieles bestimmen sollten – eilte ich stürmisch durch das Quartier Latin, als mein Mathematiklehrer, Monsieur

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