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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Frankreich gebracht hatten. Den Kern des Systems machen mehr oder weniger große Grandes Écoles aus. Um dort aufgenommen zu werden, muss man bestimmte »Killerexamina« bestehen. Nachdem diese im Lauf der Zeit im Vergleich zum Abitur ein immer höheres Niveau erreicht hatten, wurden für diese Prüfungen immer umfangreichere Vorbereitungen erforderlich. Daraus ergab sich die Entwicklung von parallel zu den Universitäten veranstalteten, öffentlich geförderten Vorbereitungsklassen mit Paukkursen, welche die größeren Gymnasien nach der zwölften Klasse ergänzten.
    Taupe ist der allgemein anerkannte Spitzname und math spé die übliche Abkürzung für die 14.Klasse – für die mathématiques spéciales . Auf ähnliche Weise steht hypotaupe und math sup ( Mathématiques supérieures) für die 13.Klasse.

© Benoît B. Mandelbrot Archives
    Die Zulassung für diese Klassen beruht vornehmlich auf der Leistung beim Abi, und das Elitegymnasium Lycée du Parc konnte ein Summa oder ein Magna verlangen. Mir gestattete man, die hypotaupe zu überspringen und in der Mitte der taupe einzusteigen. Für die letzten beiden der vorgesehenen vier Quartale war ich ein taupin , sprachlich eine extreme Ausprägung des deutschen »Bücherwurms«. In der französischen Umgangssprache bedeutet »taupe« Maulwurf, möglicherweise weil ständige Überbelastung diese Bücherwürmer daran hindert, jemals Tageslicht zu sehen. [2]
    Diese »Paukkurse« findet man in keinem anderen Land, auch wenn man ihnen in Japan vielleicht nahekommt. Die Bedingungen sind so hart, dass viele gute Schüler (sogar manche, die später große Wissenschaftler werden) scheitern und die taupe ohne jede Stigmatisierung wiederholen.

Ein Geometer trifft seine Geistesliebe
    Die wenigen Monate in Lyon waren eine Zeit, die mein Leben verändern sollte. Bruder Léon und ich verließen das Schulgelände kaum. Selbst am Sonntagnachmittag eilten wir nach dem Mittagessen hinaus und kamen schon früh vor dem Abendessen zurück – wer zu spät kam, erhielt kein Abendessen, und für uns war eine volle Mahlzeit außerhalb ein unerschwinglicher Luxus. Außerdem lebten wir ständig in tiefer Angst vor dem deutschen Stadtkommandanten; später fanden wir heraus, dass sein Name Klaus Barbie war.
    Letztlich trieb uns der brennende Wunsch an, aufzuholen und eine gute Leistung zu erzielen. Der Krieg ließ keinen Raum für langfristige Ambitionen. Nur der nächste Schritt zählte. Nur noch am Schreibtisch sitzend, arbeitete ich in einem Tempo, das über diese Monate hinaus wohl nicht durchzuhalten gewesen wäre; ich arbeitete mich in die Examensfragen ein und schärfte meine Fähigkeiten. Es war kein vernünftiges Ziel, sich als Vorbereitung auf die Prüfung zum Genie für Algebra zu entwickeln. Doch die Ereignisse brachten eine starke Begabung ans Licht, die mir absolut nicht bewusst gewesen war.
    Meine ersten beiden Wochen als Taupin verbrachte ich, wie zu erwarten gewesen war, in völliger Unklarheit – als würde ich durch ein finsteres Labyrinth wandern. In der dritten Woche geschah jedoch ohne Vorwarnung etwas Bemerkenswertes. Es war so melodramatisch, dass ich es am besten mit ein paar Worten aus Puccinis Oper Manon Lescaut ausdrücken kann: »Sola, perduta, abbandonata in landa desolata« (allein, verloren und verlassen in einem unbekannten Land). Auch ich fühlte mich so. Äußerste Verzweiflung wurde plötzlich aufgelöst – durch das Erscheinen einer unbekannten, mächtigen Kraft.
    Unser Matheprofessor, Monsieur Coissard, war gerade erst an das Lycée du Parc gekommen, wo er eine lange und bewunderte Karriere erleben sollte. Sogar aus der elitären Gruppe der Taupe-Professoren ragte er heraus. Mit ihm verbrachten wir etwa die Hälfte des Tages; er pflegte an die Tafel zu treten und ein sehr langes Problem zu schildern, das er – aufbauend auf Generationen von Erziehern – mit Bedacht so angelegt hatte, dass es absurd komplexe Berechnungen erforderte. Jedes dieser Probleme war unweigerlich in Ausdrücken der Algebra oder der analytischen Geometrie formuliert.
    Meine innere Stimme stellte mir dasselbe Problem in geometrischen Ausdrücken dar. Während meiner Zeit in Tulle hatte ich mich auf jene veralteten Mathebücher gestützt, die weit mehr Abbildungen und vollständigere Erklärungen und Begründungen enthielten als die Bücher der 1930er-Jahre – oder die von heute. Da ich die Mathematik aus diesen alten Büchern lernte, wurde ich sehr vertraut mit einem

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