Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
jedoch Clermont-Ferrand schon verlassen. Damals wurden die Uhren nicht von einer zentralen Behörde gesteuert, und die im Südwesten hatten ihre gegenüber dem Südosten um eine Stunde vorgestellt.
Bei der Ankunft in Tulle schmolz unsere tiefe Angst dahin. Eine wunderbare Überraschung: Mutter und Vater erwarteten uns am Bahnhof! Sie hatten schon eine ganze Weile jeden Zug aus dem Osten abgepasst und waren jedesmal schweren Herzens wieder nach Hause gegangen.
Ein überschwänglich glückliches Wiedersehen der Familie – keiner fehlte! Doch bald erfuhren wir, dass auch Tulle – wie Oradour-sur-Glane bei Saint-Junien – Zeuge eines abscheulichen Massakers geworden war, von dem wir in den Nachrichten nichts gehört hatten. Nach unserem Weggang hatte die Résistance ihre Organisation verbessert und war sehr aktiv geworden. Kurz bevor sie sich nach Norden absetzen mussten, hatten die Besatzungstruppen, die Oradour zerstört hatten, am 9.Juni 1944 annähernd hundert junge Leute an Lampenmasten und Balkonen eines Platzes direkt neben unserer Wohnung aufgehängt. Eines der Opfer war ein Klassenkamerad. Seine Eltern waren beide Lehrer. Er war umgänglich, hatte klare Ansichten und war ein brillanter Kopf. Oft war zu hören gewesen, wie er mit lauter Stimme Vorstellungen der klassischen Linken äußerte, die ich nicht einmal zu flüstern gewagt hätte. War er zufällig herausgegriffen oder von jemandem als Unruhestifter denunziert worden?
Der kühne Plan, den unsere Eltern entwickelt hatten – gesegnet seien ihre Überlebenskünste –, hatte Söhne und Eltern getrennt mit den Ereignissen zurechtkommen lassen. Diese Wette, die riskanteste unserer komplizierten Lebensläufe, funktionierte besser, als irgendjemand sich hätte vorstellen können. Eltern und Söhne kehrten getrennt voneinander nach Paris zurück. Die Eisenbahnbrücken über die Loire bei Orléans waren zerbombt worden; die Passagiere schleppten ihr Gepäck über eine Pontonbrücke. Aber das bedeutete gar nichts.
Ich näherte mich dem 20.Lebensjahr; im Bewusstsein, einen zweiten Lebensabschnitt zu beginnen, hoffte ich, er würde nicht so hart werden. Doch die Vergangenheit kann man nicht einfach hinter sich lassen, und das gilt besonders für eine Vergangenheit wie meine, die so sehr in die Zeit der Weltwirtschaftskrise und des Kriegs gefallen war. Ich hatte nie die Muße, »mich selbst zu finden« – abgesehen von meinem zügellosen mathematischen Traum. Als Student machte ich meine Sache gut, aber dass ich Herr meines eigenen Lebens war, war neu für mich. In diesem zweiten, zwölf Jahre dauernden Lebensabschnitt meisterte ich mein Leben nicht gerade elegant. Also provozierte ich rechtzeitig und in voller Absicht einen verspäteten dritten Abschnitt.
TEIL II
Meine lange, windungsreiche Ausbildung in der Wissenschaft und im Leben
Die Bezeichnung Einzelgänger trage ich mit Stolz. Ich lebte als ein solcher und beabsichtige, als solcher zu sterben. Ich glitt in diese Rolle, als ich erwachsen wurde. Eine in der Jugend getroffene Entscheidung führte mich auf den einsamen Weg des Einzelgängers. Was sich daraus ergab, benötigte eine lange Entwicklungszeit. Wäre ich im mittleren Alter gestorben oder aus dem Beruf ausgeschieden, wäre es nicht zu verstehen gewesen. Mein Kepler-Traum begann sich zu entfalten.
8
Pariser Prüfungshölle, Qual der Wahl und ein Tag an der École Normale Supérieure
(1944–1945)
Im September 1944 hatten sich die meisten Pariser – einschließlich meiner kleinen engeren Familie – mental auf neue und andere Herausforderungen eingestellt. Noch vor dem endgültigen Ende des Kriegs am 8.Mai 1945 war das Ende der Besatzungszeit eine unendliche Erleichterung, bedeutete aber auch einen äußerst komplizierten Wendepunkt in meinem Leben. Jetzt stand die nächste Aufgabe an: die beste Universität herauszufinden, die mich sowohl aufnahm als auch zwei selbst auferlegte Ziele förderte oder wenigstens tolerierte. Ich wollte mich eng an die Geometrie halten und mich darauf vorbereiten, auf irgendeine Weise den verrückten Kepler’schen Traum in die Tat umzusetzen, den ich nicht allzu lange zuvor formuliert hatte. Die gefürchteten Prüfungen stellten sich als Kinderspiel heraus und zogen die erste, freieste und quälendste berufliche Entscheidung meines ganzen Lebens nach sich.
Der Heilige Gral – die Grandes Écoles
Die École Normale Supérieure und die École Polytechnique zogen Bewerber aus dem gesamten Land an und waren das
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