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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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gewesen war.
    Welche praktischen Aspekte das Leben im Untergrund an sich hatte, erschloss sich nicht unbedingt auf den ersten Blick. Unsere falschen Personalpapiere waren kein Problem, weil es ein politischer Akt war, sie bereitzustellen – ein Akt des Widerstands. Lebensmittelkarten wurden dagegen auf einem unregulierten Schwarzmarkt gehandelt, und die eine Kontrolle überstehenden Versionen lagen in einer Preisklasse, die wir uns ebenso wenig leisten konnten wie unser Schutzengel.
    Der wichtigste Vorzug des Lycée du Parc in Lyon war deshalb, dass der für Internatsschüler zuständige Verwalter angesichts unserer offensichtlich »geschönten« Lebensmittelkarten ein Auge zudrückte. Dieses Gymnasium war vermutlich das beste in den Provinzen und ein großer Vorteil für mich, wenn auch ein Zufallstreffer – es sei denn, unser Engel hätte wirklich übernatürliche Kräfte besessen.
    Damit mir unter Stress keine Fehler unterliefen, bestätigten meine gefälschten Schulzeugnisse, dass ich aus Tulle kam. Als ich – unmittelbar nach meiner Ankunft – einen Blick in das Klassenzimmer des humanistischen Zweigs warf und dort einen früheren Klassenkameraden aus Tulle entdeckte, war ich folglich starr vor Schreck. Ich sah ihm direkt in die Augen und sagte langsam: »Wie schön, dich hier zu sehen. Erinnerst du dich an mich?« Ich nannte ihm meinen Tarnnamen. Keine Antwort, ich wiederholte den ganzen Satz noch einmal. Er lächelte und antwortete: »Was für eine Überraschung. Schön, dich wiederzusehen. Natürlich erinnere ich mich an dich.« Ich konnte wieder durchatmen – er würde mich nicht verpetzen.
    Meine gefälschten Zeugnisse reduzierten mein Abitur von dem gefährlich auffallenden Prädikat Summa auf ein angemessenes Magna . Eines Tages kam ein anderer Schüler auf mich zu. »Wie ich höre, kommst du aus Tulle. Dann musst du doch Benoît Mandelbrot gekannt haben.« – »Klar, natürlich, den kenne ich gut.« – »Stimmt es, dass er ein Crack ist, der beim Abi mit Summa abgeschlossen hat?« Zur Abiturzeit 1944 war »Crack« in Frankreich ein gängiger Slangausdruck für Überflieger. Man stelle sich meine Panik vor. Ahnte der Schüler die Wahrheit? Stellte er mich auf die Probe? Zitternd und mit vorgetäuschter Nonchalance fing ich an, wundersame Geschichten über mich zu erzählen, wie anstrengend es für »mich« als »normaler« Schüler gewesen sei, in einer Klasse mit »diesem Kerl« zu sitzen. Ich konnte erst aufatmen, als klar wurde, dass der Bursche bloß neugierig war.
    Die eineinhalb Jahre, die ich keine Schule besucht hatte, forderten Fragen heraus: »Wo zum Teufel warst du seit der Oberschule?« – »Ich war krank und habe am Unterricht der École Universelle teilgenommen. Das ist ein ganz guter Laden.« Es handelte sich um eine nicht gerade angesehene private Fernschule, die sehr viel Werbung machte, doch in der Eliteschule Lycée du Parc hatte niemand unmittelbare Erfahrungen damit gemacht, und so wunderte man sich nur, dass eine solche Schule gut sein sollte. Die Antwort verschaffte mir jedenfalls Zeit, bis die Burschen meine Leistungen sahen, die Wahrheit errieten und keine Fragen mehr stellten.
    Alles in allem grassierte die Angst. Doch selbst im trostlosesten Stadium der Besetzung waren die schlimmsten Schrecknisse in Frankreich niemals so systematisch und immer gleichbleibend brutal wie in weniger vom Schicksal begünstigten Ländern. Jede meiner Begegnungen hätte zwar zu einer Katastrophe führen können, doch das blieb mir erspart. Neben mir im Klassenzimmer saß der Schüler Francis Netter, der wie mehrere andere Klassenkameraden aus einer alten Familie französischer Juden stammte und nicht unter falschem Namen lebte. Ihre Anwesenheit verursachte nie Probleme – ein kleines Faktum über das Vichy-Regime, das immer wieder Unglauben hervorruft. Francis wohnte gegenüber der Schule. Als er erkannte, dass ich ganz allein war, wollten mich seine Eltern zum Essen einladen, doch ich stellte sie vor Rätsel und verwirrte sie – nicht nur wegen meines Akzents, dessen Ursprung sie im Burgund vermuteten. Sie quälten sich mehrere Wochen mit der Befürchtung, ihre Freundlichkeit könnte sich rächen, luden mich dann ein, und Francis wurde – und blieb – ein guter Freund.

Die
Taupe
– eine einzigartige französische Institution
    Das Lycée du Parc, in das ich eintrat, mag wenig bekannt sein, ist aber der Eckstein des Mandarinsystems, das Jesuiten im 17.Jahrhundert aus China nach

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