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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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umfangreichen, über Jahrhunderte zusammengestellten Zoo sehr spezieller Formen jeglicher Art. Ich war imstande, sie jederzeit zu erkennen, selbst wenn sie in einem analytischen Gewand auftraten, das mir »fremd« vorkam und das, wie ich glaubte, auch ihrer eigenen Natur fremd war.
    Ich begann stets mit einer raschen Skizze, spürte aber bald, dass da irgendetwas fehlte, dass sie ästhetisch unvollständig war. Zu verbessern war sie beispielsweise, indem ich sie einer einfachen Projektion oder Inversion in Bezug auf einen Kreis unterzog. Nach wenigen derartigen Umformungen wurde jede Figur harmonischer. Die alten Griechen hätten die neue Form »symmetrisch« genannt, und schlagartig wurde die Suche nach Symmetrie und deren Erforschung zum Mittelpunkt meiner Arbeit. Diese spielerische Tätigkeit wandelte unmöglich schwierige Probleme in einfache um. Die nötige Algebra konnte stets später eingetragen werden. Hoffnungslos komplizierte Probleme der Integralrechnung konnten auf bekannte Figuren reduziert werden, woraufhin sie leicht zu lösen waren. Ich pflegte mich zu melden und meine Befunde zu schildern: »Monsieur, ich sehe eine auf der Hand liegende geometrische Lösung.« Auch das abstrakteste Problem, das uns der Lehrer stellte, begriff ich sehr schnell. Und dann – ohne Mühe, bewusste Suche oder Verzögerung – wählte ich einen Pfad, der jede Schwierigkeit vermied. Im Verlauf dieses Quartals in Lyon im Winter von 1944 erwies sich meine absonderliche Begabung als stark und verlässlich.
    In gewisser Weise lernte ich zu betrügen. Doch meine seltsame Vorstellung verstieß nie gegen irgendeine schriftliche Regel. Alle anderen übten Geschwindigkeit und Genauigkeit in den undurchschaubaren, aber erlernbaren Künsten der Algebra und der Ableitung komplizierter Integrale ein. Mir gelang es, auf der Basis von Tempo und ästhetischen Kriterien geprüft zu werden, indem ich die Algebra zunächst in Geometrie übersetzte und dann in Ausdrücken geometrischer Figuren dachte. Meine analytischen Fertigkeiten blieben so-la-la, spielten aber keine Rolle – die schwere Arbeit wurde mit der Geometrie erledigt, dann reichte es aus, kurze Berechnungen einzufügen, die sogar ich zustande brachte.
    1973 besuchte ich Monsieur Coissard in der Nähe von Chamonix in den französischen Alpen. Ich traf seine Frau und seinen Nachfolger in Lyon, der in der Nähe Urlaub machte. Ein wahrhaft gefühlsbeladenes Wiedersehen! Coissard erzählte seine Version der Geschichte – wie tief meine Methoden im Verlauf jenes Winters von 1944 sein eigenes Leben und das seines Vaters beeinflusst hatten. Dieser war ebenfalls Lehrer im Ruhestand und lebte bei ihm. Beide hatten damals lange Abende und Wochenenden darauf verwendet, im Examenslehrplan nach alten und neuen Problemen zu suchen, die ich nicht sofort »geometrisieren« könnte. Es gelang ihnen nie, mich in Verlegenheit zu bringen.
    Woher kam meine Begabung? Genetik und Einflüsse der Gesellschaft lassen sich nicht auseinanderdividieren, doch es gibt Hinweise. Szolem führte ein Doppeleben als Werktagsmathematiker und Sonntagsmaler. Ich vermenge täglich Mathematik und Kunst. Meine Begabung für Figuren ist vielleicht durch all die ungeplanten Komplikationen erhalten geblieben, die meine Schulzeit während der frühen Kindheit und des Kriegs prägten. Wäre ich bestrebt gewesen, größere Gewandtheit beim Umgang mit Formeln zu erwerben, hätte ich diese Begabung vielleicht beeinträchtigt. Und der mangelnde reguläre Kunstunterricht beeinflusste so manche Lebensentscheidung, lief jedoch nicht auf eine Behinderung hinaus, sondern erwies sich als Segen.
    Seltsamerweise umfasste das Curriculum des Taupe auch freihändiges Zeichnen. Vor der Erfindung der Fotografie erwartete man von Ingenieuren, dass sie ihre Arbeit selbst illustrierten. Die Mehrheit der Schüler hatte zwei linke Hände, doch bei mir sorgte die familiäre Genetik dafür, dass ich sehr präzise arbeitete. Als Gegenstände bekamen wir vor allem überstrapazierte Gipsabgüsse berühmter Skulpturen aus dem Louvre: die Venus von Milo (glatt und einfach), die Siegesfigur der Nike von Samothrake (schwer zu zeichnende Schwingen) oder die Büste Voltaires von Houdon (ein überaus anspruchvolles Haarteil). Der Zeichenlehrer sammelte unsere Bemühungen ein und gab sie mit Noten und Kommentaren zurück. In der Schule hatte man vergessen, den neuen Schüler anzukündigen, weshalb er meine Zeichnung in der nächsten Stunde vorzeigte und dazu

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