Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Pons, mich auf der Straße ansprach und wir unsere erste und letzte private Unterhaltung führten. »Lassen Sie uns über das große mathematische Problem an der Polytechnique reden. Ich konnte es nicht in der zulässigen Zeit lösen, aber von den Prüfern ist zu hören, dass es einer aus meiner Klasse – als Einziger in ganz Frankreich – geschafft hat. Kann es sein, dass Sie das waren?« – »Nun, ich habe das ganze Problem gelöst – einschließlich aller Fragen, die am Schluss als Option gestellt worden sind.« – »Wie zum Teufel haben Sie das gemacht? Kein Mensch konnte dieses dreifache Integral in der erlaubten Zeit lösen!« – »Ich habe gleich gesehen, dass es sich um das Kugelvolumen handelt. Doch zuerst muss man von den gegebenen Koordinaten zu den nachfolgenden seltsamen, aber darin eingeschlossenen Koordinaten übergehen, die meiner Meinung nach von der Geometrie her naheliegen.« – »Oh!«, sagte er, ehe er weiterging und dabei »aber natürlich, natürlich, natürlich!« vor sich hin sprach.
Als die Tortur zu Ende ging, hatte ich bei dieser großen Prüfung der Carva die Gesamtnote 19,75/20 erhalten – die Note 20/20 hat noch nie jemand bekommen.
Von mir hatte man angenommen, ich würde »zur Übung« an den Examina teilnehmen, was mir beim nächsten Anlauf helfen sollte. Doch zu den 19,75/20 kamen noch ein paar andere sehr gute Noten, vor allem in den zusätzlichen Mathe-Prüfungen. Zudem war mein schriftliches Französisch sehr gut, mein Englisch ganz brauchbar, und im freihändigen Zeichnen hatte ich gute Bewertungen. Unterdurchschnittliche oder gar üble Noten in mehreren anderen Fächern wurden dadurch leicht ausgeglichen. Ein Höhepunkt in meinem Leben!
Ich hatte schlicht und einfach nicht nur den Krieg überlebt, sondern hatte es in Frankreich für das ganze Leben geschafft . Natürlich gab es keine Garantie, dass ich ein großer Mathematiker werden würde – oder sonst etwas Großes. Aber jede der beiden Hochschulen konnte jede Tür öffnen und bot so etwas wie eine automatische lebenslange Versicherung. All das war einfach nicht zu glauben.
In der Rückschau scheint mir, dass in einer Hinsicht eine große Chance vergeudet worden ist, während eine andere auf bestmögliche Weise genutzt wurde. Dreizehn Jahre lang habe ich mein plötzlich erworbenes »Kapital« nicht klug investiert; angeblich wurde es in einer Periode der langsamen Reifung und des Wanderns verschleudert. Dann zog ich in die USA, wo französische Verdienste keinen Wert besaßen. Doch dort gelang es mir, eine Karriere zu begründen, bei der meine Fähigkeiten und meine Vorlieben auf einen Nenner gebracht wurden – sie drängte all die durch diese Prüfungen verdienten Vorteile an den Rand, passte aber perfekt zu dem Traum, den ich mir während des Kriegs vorgestellt hatte.
Wiedersehen mit Onkel Szolem
Eines Tages, als ich gerade von einer Prüfung der Normale in mein Quartier zurückkehren wollte, begrüßte mich in der Halle des Lycée Louis-le-Grand ein Mann. Einen Augenblick lang hielt ich ihn fälschlicherweise für meinen Vater. Er war jedoch jünger und trug nicht die chronischen Anzeichen fortwährender tiefer Sorge. Tatsächlich war es Szolem, der wieder in Paris war, nachdem er die Kriegsjahre am Rice Institute in Houston, Texas und anschließend beim Militär in London verbracht hatte.
Er bemerkte, dass ich überraschend gut beieinander und nicht halb verhungert sei, und ich erzählte ihm, weshalb. Wir sprachen über unsere Sorge um die Leute in Polen, versicherten einander aber, dass in seiner und meiner Familie alle am Leben und wohlauf seien. Seine Frau und sein Sohn waren im Begriff zurückzukehren, und ich stellte den Kontakt zwischen ihm und Vater her.
Dann redeten wir über die Prüfungen. »Wie weit bist du inzwischen?« – »Ich habe alles bis zur letzten Frage geschafft, und mir fällt kein einziger schlimmer Fehler ein.« – »Hervorragend, Gratulation, ganz hervorragend; du bist ein Siegertyp. Das freut mich sehr. Du bist so ein Glückspilz. Du wirst an die Normale gehen und etwas Wundervolles erleben, das all meine Freunde mitgemacht haben, ich aber verpasst habe.«
Später erzählte mir Szolem über viele Tage, Monate und Jahre hinweg von den inneren Abläufen in der Welt der Mathematik und der Naturwissenschaft, die er sehr gut kannte. Oft sprach er von seinem Mentor Hadamard und seinen Zeitgenossen. Er beschrieb den schillernden André Weil und die total fiktive, aber immer
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