Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
einflussreicher werdende Gruppe der Jungtürken, die Weil plante, organisierte, führte und mit dem Namen »Nicolas Bourbaki« versah.
All dies faszinierte mich. Einiges kam mir äußerst attraktiv vor, doch Weil und Bourbaki fand ich ausgesprochen abstoßend. Direkt nach dem Krieg war ich geheimen Gruppen und charismatischen Führern gegenüber misstrauisch, und der Geschmack dieses Führers unterschied sich gewaltig von meinem. Mit einer Mischung aus Idealismus und Praxisbezug schilderte Szolem sehr freimütig, wie großartig dieses System einerseits war, sparte aber andererseits dessen Fehler nicht aus – etwa die herrschende Patronage, die verbreitete intellektuelle Inzucht und den Nepotismus, die begünstigt wurden durch die Tatsache, dass sogar in der Mathematik Werturteile subjektiv sind.
»Kriegsrat« der Familie
Unter meinen Mitschülern, die ebenfalls zwischen der Normale und der Polytechnique wählen konnten, quälten sich meinem Eindruck nach nur wenige mit der Entscheidung. Regelmäßiger Schulbesuch vermittelt vernünftige Ziele, und meine Klassenkameraden hatten sich über lange Zeit hinweg vorbereitet. Dagegen war ich sowohl zu wenig zur Schule gegangen als auch plötzlich mit zu vielen Ratschlägen konfrontiert. Nur wenige Monate zuvor hatte ich mich verzweifelt darauf konzentriert, am Leben zu bleiben. Auf einmal war eine wunderbare, auf lange Sicht wirkende Entscheidung in Reichweite, die ich allein zu treffen hatte.
Ein Detail sollte schon bald eine große Rolle spielen: Studenten, die in die École Normale eintraten, mussten sich entweder für Mathematik oder Physik entscheiden, konnten aber problemlos umsteigen. Dagegen ermöglichte die Carva nur ein Minimum an Vorausplanung, weil die Möglichkeiten durch den Rang bei der Benotung weitgehend eingeschränkt wurden.
Der hohe Einsatz versetzte uns alle in Schrecken, und meine Eltern misstrauten meinen Lehrern. So wurde ein familiärer »Kriegsrat« einberufen: Szolem, dazu ein Cousin zweiten Grades und guter Freund – der führende physikalische Chemiker Michel Magat –, den wir im Februar 1945 in unserer Behausung in Belleville getroffen hatten.
Der Onkel und der Cousin waren brillant und energisch, politisch engagiert, aber nicht clever – wie sich bald herausstellen sollte, waren sie eigentlich unglaublich naiv. Sie kämpften gegeneinander und mit Vater um meine Zukunft und meine Seele. Die genauen Worte habe ich natürlich vergessen, aber die Botschaft ist mir klar in Erinnerung geblieben.
Onkel : Die Carva verwandelt kluge Studenten in seelenlose Bürokraten, die nichts richtig beherrschen. Sie haben den Ersten Weltkrieg gewonnen, den Zweiten Weltkrieg aber verloren. Folge dem Weg, den ich eingeschlagen habe, und ergänze ihn um das, was ich verpasst habe. Geh an die Normale . Keine Karriere bringt auch nur annähernd so viel Belohnungen mit sich wie die reine Wissenschaft. Sie gibt dir sowohl Freiheit als auch ein gewisses Maß an Sicherheit, weil die Ehemaligen sich umeinander kümmern. Wenn du Pech hast und nichts von Bedeutung entdeckst – doch da solltest du dir keine Sorgen machen, du wirst sicher etwas finden –, wirst du eben Hochschullehrer. Keine Karriere dient der Gesellschaft mehr, und du wirst glücklich und stolz auf dich sein.
Cousin: Unausweichlich sind gesellschaftliche und politische Kräfte im Begriff, beide Hochschulen abzuschaffen. Die Carva ist eine Hochburg überholter Vorstellungen und alter Denkweisen. Sie werden dir nichts beibringen können, sondern dir nur das Gefühl geben, zur Elite zu gehören. Die Normale ist genauso schlecht. Du solltest dir überlegen, an die École Supérieure de Physique et Chimie zu gehen. Sie wird von einer Stadt, nicht vom Staat getragen, und dort weiß man, wie man Leute ausbildet, damit sie bodenständige Wissenschaftler werden.
Vater: Denke praktisch und höre auf keinen von beiden. Als Wissenschaftler erfolgreich zu sein ist ein Lotteriespiel. Szolem hat einen Jackpot geknackt, weil er intelligent und clever ist, aber auch, weil er genau zur rechten Zeit nach Frankreich gekommen ist. Doch Frankreich, Europa und weite Teile der Welt sind ein totales Chaos – keiner kann vorhersagen, was als Nächstes geschehen wird. Die Prognosen deines Cousins sind nicht ernst zu nehmen. Ganz nebenbei, wenn die Russen den Kommunisten helfen, hier an die Macht zu kommen, bist du vielleicht gezwungen, noch einmal deine Wurzeln zu kappen und in ein anderes Land zu gehen – Brasilien,
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