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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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bezeichnet werden.
    Ein zweites Beispiel betraf die von Szolem und seinen Studenten und Freunden schon vorher durchstreifte geistige Landschaft. Als die Zeit gekommen war, führte die ständige Untersuchung der Rauheit dazu, dass ich auf die zunehmenden Tiefen ungezähmter Komplexität stieß – weshalb ich nicht länger davon ausging, dass die Welt grundlegend sanft und einfach ist. Zu meinem anfänglichen Erstaunen und letztlich zu meiner Freude treffe ich fortwährend auf die wilde Unordnung, die sich in Szolems Mathematik findet. Ihre Anwendbarkeit in der Praxis zeigte, dass sie das unreduzierbare Durcheinander der wissenschaftlichen Grenze widerspiegelt, die ich mir als Arbeitsgebiet ausgesucht habe.

Eine unerwartete Unterbrechung
    Im Januar 1945 war es aufgrund einer Merkwürdigkeit des Kriegs möglich, dass ich im letzten Moment von der Normale zur Carva wechselte. Nur die Normale verfügte über freie Schlafsaalplätze, die Carva hingegen nicht. So musste meine Klasse 1945 fast neun Monate auf frei werdende Räume warten, weshalb mein Studienbeginn erneut durch eigenartige Jobs unterbrochen war.
    Viele Menschen, die ich kenne und respektiere, schätzen ein effizientes Vorankommen junger Leute und betrachten »Zeitverschwendung« als schädlich – sogar als gefährlich oder unmoralisch. Doch ich hatte keine Wahl. Außerdem: Im Nachhinein glaube ich, dass es mir half, erwachsen zu werden – ein wertvolles Geschenk des Schicksals. Sehr viel später war ich froh, wenn meine Söhne Gründe hatten, das eine oder andere Jahr auszusetzen. Heutzutage werden Auszeiten toleriert, wenn auch nicht in den harten Naturwissenschaften. Unter meinen ehemaligen Klassenkameraden geben viele zu, dass es sie lebenslang schmerzt, niemals eine Pause erlebt zu haben.

Sirenengesänge neuer Propaganda
    Ich wartete darauf, dass meine Elitehochschule endlich bezugsfertig wurde, aber Geld und Essen waren ein dauerndes Problem. Es machte mir nicht aus, in einer »Suppenküche« in Belleville zu essen, die wahrscheinlich von irgendeiner amerikanisch-jüdischen Wohlfahrtsorganisation betrieben wurde. Die meisten regelmäßigen Gäste dieser Suppenküche träumten davon, dass dem Sieg unmittelbar die Revolution folgen würde, und die Unterhaltung war stets lebhaft.
    Die Nachkriegszeit war ein fruchtbarer Boden für alle Arten von selbst ernannten Erlösern, und diese Stimmung schien sich auf alles auszuwirken, was mich anging. Es sei moralisch zwingend geboten, bekamen wir von allen Seiten zu hören, sich mit aller Macht für ein großes und gut begründetes oder vielleicht auch für mehrere miteinander vereinbare Anliegen zu engagieren. Vieles von dem Geschrei, das ich schon vor dem Krieg in Warschau gehört hatte, traf mich jetzt, da ich älter war, viel stärker, und dazu kamen noch neue Töne.
    Kommunistische Parteien verschiedener Denkschulen wetteiferten um die Anwerbung von Anhängern. Immer mehr Menschen in Frankreich und in ganz Europa waren zu der Überzeugung gelangt, für die Bewältigung der anstehenden gewaltigen Probleme kämen Demokratie und Individualismus nicht mehr infrage. Sie müssten zugunsten eines abgestimmten kollektiven Handelns geopfert werden, vorzugsweise zugunsten einer säkularen, von einem charismatischen Führer geleiteten Polit-Religion. Die Weltkriege hatten zwar eine Menge Imperien zerstört, doch viele ihrer entscheidenden Strukturen waren nach wie vor populär, und so manches Land setzte sie prompt wieder in Kraft, oft in kleinerem, aber brutalerem Maßstab.
    Die schon seit Jahrhunderten geltende Standardoption an der Carva bestand darin, ein »grand commis« (hoher Staatsfunktionär) zu werden, der sich nichts anderem widmete, als dem französischen Staat und dessen Institutionen die alte gloire zurückzubringen. Nach dem Krieg erwogen jedoch viele meiner Studienkollegen die entgegengesetzte Option: Da sie befürchteten, dass Frankreich zu ihren Lebzeiten nicht mehr auferstehen würde, favorisierten sie weit entfernte Orte, die mehr versprachen – nicht die USA, sondern Argentinien oder Brasilien (diese Einschätzung hielt ich damals wie heute für verrückt). Wie ein Blick in das Verzeichnis der Absolventen zeigt, folgten diesen Reden jedoch keine Taten.
    1945 wurde ständig davon gesprochen, man müsse sich einer Hingabe, Berufung oder einer anderen konfektionierten Verpflichtung unterwerfen. Katholiken bekamen mehrere bestärkende oder modernisierte Versionen ihres Glaubens angeboten. Manche der

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