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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Gläubigen, die Rom vorwarfen, zu oft den Kompromiss gesucht zu haben, wurden Fundamentalisten. Jede ernsthafte Form von Engagement imitierte Regeln, die Organisationen wie die Freimaurer und die katholische Kirche ihrerseits von ihren Vorläufern übernommen hatten. Jedermann »vermählte sich einer Disziplin« – wie die Jesuiten sich mit der Kirche verheiraten und als Zeichen einen Eisenring am Finger tragen. Da die französische Gesellschaft konservativ gefestigt war, wurde Engagement oft weitervererbt.
    Der berühmte Schriftsteller Jean-Paul Sartre gehörte zu einer prominenten Elsässer Familie, den Schweitzers. Ein Demagoge, der ein schwerfälliges Französisch schrieb, aber mit Engelszungen reden konnte. Ich besuchte einmal eine politische Veranstaltung, bei der man ihn vorstellte. Der Vorsitzende schloss seinen Vortrag mit dem Wunsch, Sartre möge ein politischer Anführer werden. Bald sollte ich schon bei der bloßen Vorstellung erschauern.
    Der besonnene Schriftsteller Raymond Aron – den ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, erst viel später schätzen lernte – war an der Normale Jean-Paul Sartres Klassenkamerad gewesen. Er hat sich einmal folgendermaßen beklagt: »Ich habe immer recht behalten, aber keiner kennt mich, und Sartre hat immer unrecht, aber er ist berühmt« (na schön, das gilt heute nicht mehr). Freunde drängten mich, Aron als verwandten Geist anzuerkennen, aber ich lehnte ihn ab, weil er für den Figaro schrieb, ein stur konservatives Blatt, das keiner meiner Bekannten auch nur angefasst hätte.
    Die Querströmungen jener Zeit beeinflussten mich zutiefst. Fast alle meine Freunde schlossen sich lautstarken Bewegungen an. Die skeptische Einstellung, die meine Familie mir in den Dreißigern beigebracht hatte, war stärker geworden, und allen Widrigkeiten zum Trotz entschied ich mich – wie Raymond Aron, den ich damals noch nicht kennengelernt hatte –, als Abweichler eine eigene Meinung zu haben. Außerdem war ich, auch hier quer zum Zeitgeist, der Überzeugung, dass man keine neue Kirche gründen muss, wenn man von der Meinung der herrschenden Kirche abweicht. Mein Ehrgeiz, mein Größenwahn bestanden darin, der Kirche zu einer Veränderung zu verhelfen. Und wer war der selbst ernannte Messias der Mathematik? Ob man es mochte oder nicht, es war ganz sicher André Weil, der entscheidende Gründer von Bourbaki.
    Totale Hingabe an eine Sache war für manche meiner Freunde ein Segen – zumindest eine gewisse Zeit lang. Ich dagegen war nie in Versuchung, mich irgendwo anzuschließen. Stattdessen begann ich, mein Leben fortwährend nach meinen Bedürfnissen zurechtzuschustern – auf eine Art, die von der Geschichte vielleicht belohnt werden würde, von der Gesellschaft jedoch eher nicht. Diese Entscheidung hat möglicherweise dazu beigetragen, dass mein aktives Leben so lange gedauert hat, aber auch dafür gesorgt, dass ich nicht zu früh reifte. Wenn keine gut ausformulierte Sammlung von Spielregeln vorhanden ist, ergibt der Begriff der Frühreife keinen Sinn.
    Ein Blick auf Frankreich nach dem Jahr 2000 reicht aus, um zu zeigen, dass zwei heiße Kriege und ein kalter in mancher Hinsicht wenig geändert haben. Politischer Marxismus und Gaullismus – wie auch deren geistige Entsprechungen als Bourbakismus, Existenzialismus oder Freud’sche Lehre – scheinen ausgebrannt. Aber wer weiß?

9
Paris: Als ausländischer Student an der École Polytechnique
    (1945–1947)
    Das Motto der Carva lautete jahrelang: Pour la patrie, les sciences et la gloire (Für Vaterland, Wissenschaft und Ruhm). Die Verbindung dieser Hochschule mit dem Vaterland liegt in ihrer Hauptaufgabe begründet, unglaublich viele Bereiche des französischen Staates – sowohl die zivilen als auch die militärischen – mit technischen Eliten zu versorgen.
    Der Rang beim Abschluss an der Carva gilt als extrem wichtig und rechtfertigt es, dass die Gesellschaft wie auch der Einzelne ungeheuer viel investieren. Ein sehr guter Rang verspricht einen hervorragenden Posten beim Staat, häufig gefolgt von einer glänzenden Business-Karriere. Alle, die ganz oben landen wollten, mussten hart und – wie in der Taupe – effizient arbeiten, sodass ihr Leben keine »Durchhänger« kannte. Die meisten meiner Klassenkameraden an der Carva fanden die Konkurrenz übertrieben. Sie zogen es vor, im Schongang zu arbeiten, und vertrauten darauf, dass sie als ancien élève (Ehemaliger) bei jeder von ihnen gewählten Karriere einen

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