Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Vorteil hatten. Da der Abschluss viele Privilegien mit sich bringt, verspüren nur wenige Absolventen den Anreiz, außerhalb Frankreichs zu leben – gewöhnlich eine Voraussetzung, sich in anderen Ländern ein Renommee zu verschaffen. Vielleicht bin ich – als gebürtiger Pole mit litauischen Wurzeln – ein Sonderfall. Für mich bedeutete die Carva zunächst sehr viel; erst als Student wurde ich französischer Staatsbürger. Aber nach und nach wurde sie immer weniger wichtig, bis sie zu einer netten Jugenderinnerung verblasste. Mit meinem Examen schloss ich die Carva wirklich ab, während es der typische Absolvent als willkommenes »Lebenslänglich« empfindet, ein ancien élève zu sein.
Studentenleben an der
Carva
, der Militärakademie
Die 1794 als Hochschule für Bauwesen gegründete Institution wurde von Napoleon zur Militärakademie für Artillerieoffiziere und Militäringenieure – einschließlich einiger hoher Staatsbeamter – umgewandelt. Einige Absolventen wurden auch vorübergehend zu wissenschaftlichen Solisten; sie haben erheblich zu den ruhmreichen Tagen der französischen Naturwissenschaft zwischen 1800 und 1850 beigetragen, die anschließend durch Henri Poincaré (aus der Klasse von 1873) verlängert wurden. Zwischen meinem Lehrer Paul Lévy (Abschlussklasse 1904) und – ungefähr – meiner Klasse von 1947 durchlitt die Wissenschaft ein langes und schmerzliches Tief.
Zu meiner Zeit wurden immer weniger Absolventen Offiziere, doch die Hochschule wurde strikt nach dem Modell einer Militärakademie betrieben. Alle hier eintretenden Studenten wurden sofort in den Staatsdienst übernommen, dafür mussten sie allerdings seit mindestens fünf Jahren französischer Staatsbürger sein. Ich war ein spezieller Auslandsstudent – und mit Ausnahme eines verstorbenen Klassenkameraden über zehn Jahre lang der einzige ausländische Student der Hochschule.
Zumeist lebten alle Studenten in Kasernen. Für die Erstsemester des Jahres 1945 war das auf dem vergleichsweise eleganten Campus in der Stadt – in der Rue Descartes 5, ein paar Schritte hinter dem majestätischen Tor, das Vater mir unmittelbar nach meiner Ankunft in Paris gezeigt hatte. Als 1946er Abschlussklasse lebten wir in dem Fertigbau Caserne de Lourcine ein gutes Stück südlich vom Quartier Latin.
Untergebracht waren wir in Stuben für zwölf Mann, den sogenannten caserts (kurz für casernements ): eng zusammenstehende Betten in einem kleinen Schlafraum und Schreibtische in einem gemeinschaftlichen Studierzimmer. Drei Stuben bildeten bei Vorträgen, Sport und auch beim Fremdsprachenunterricht eine »Gruppe«. Aufgrund einer glücklichen Fügung schlug man bei der Einteilung zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Hochschule bevorzugte Fähigkeiten in den Sprachen und eine Mischung von Begabungen für Sport und die Hauptfächer. Deshalb wurden wir zuerst nach unseren Eingangsnoten in Englisch oder Deutsch eingestuft und entsprechend auf die Stuben verteilt.
Dresscode an der
Carva
: immer in Uniform
Viele meiner ansonsten konventionellen Klassenkameraden motzten ständig gegen die Uniformpflicht, doch ich als verarmter Sonderling beklagte mich selten. Als ich in die Schule eintrat, war ich buchstäblich in Lumpen gekleidet. Léon und ich warfen unsere Kleidung zusammen, und ich zog meine schlechtesten Schuhe und eine dazu passende Hose und Jacke an. Ein paar Stunden später – welche Wonne – warf ich sie in die Mülltonne der Hochschule. Das war vor der Zeit, in der die Mode, sich lässig zu kleiden, zu einer eigenen universellen Uniform wurde. Ohne die Uniform wären die Bekleidungsunterschiede zwischen den reichen und den armen Studenten in meiner Klasse unerträglich auffällig gewesen.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Zu den regulären Schuluniformen gehörte ein »Battledress« (ein in Frankreich gängiges Wort für Kampfanzug) für den Alltag und eine Offiziers-Stadtuniform (bei meiner fehlten gewisse Rangabzeichen). Beide waren khakifarben, weshalb der Status der Schule als Militärakademie – wenn auch nur an der Oberfläche – deutlich sichtbar war, was gelegentlich kleine Vergünstigungen mit sich brachte. Auf dem Bild bin ich Stadtuniform zu sehen.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Zu ganz besonderen Gelegenheiten wurde »le grand U« verlangt, die maßgeschneiderte Prunkuniform aus schwerem schwarzem Wollstoff mit langen Reihen vergoldeter Knöpfe und Besätzen in Rot und Gold. Sie konnte entweder mit einem sehr langen
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