Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Es war der Moment, in dem ich die Bekanntschaft einer großen Persönlichkeit machte – einer bedeutenden Gestalt auf dem spannenden Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie. Diese Begegnung mit Loève erfüllt mich mit Dankbarkeit. Zum richtigen Zeitpunkt brachte sie mich in Verbindung mit anderen Gründen dazu, meinen Kepler-Traum auf die Theorie des Zufalls auszurichten.
In seinen Zwanzigern hatte Szolem Erfolg gehabt, weil er alles andere als nichtssagend gewesen war, doch Alter und Erfolg hatten viele seiner Ecken und Kanten abgeschliffen. In den meisten Fragen war er liberal – abgesehen von denen, die ihm am Herzen lagen. Weil ich nicht geradewegs in seine Fußstapfen treten wollte, hatten wir fürchterliche Auseinandersetzungen. Solange ich nicht genau bestimmt hatte, was ich eigentlich vorhatte, verlor ich – natürlich – ständig. Er verstand nie, was ich anstrebte; fortwährend machte er sich Sorgen wegen meiner sehr üblen Vorlieben und ihrer unausweichlich schrecklichen Folgen, und bis an sein Lebensende glaubte er, ich hätte meine angeborenen geistigen Gaben vergeudet.
Ein entscheidender Faktor in unserer Beziehung war einfach eine klassische Reaktion gegenüber einer mächtigen Vaterfigur – Szolem war immerhin 25 Jahre älter als ich. Dazu gehörte ein in der Literatur und der Geschichte beliebtes Thema: der Generationenkonflikt unter Emigranten. In unserer Familie gehörte Szolem durch die Flucht von Polen nach Frankreich zur ersten Generation; ich stand auf seinen Schultern und gehörte einer freieren zweiten Generation an.
Ähnliche Folgen zeigen sich, wenn ein Gesetz, das eine Bevölkerung strikten Einschränkungen unterwirft, plötzlich aufgehoben wird. Die natürliche Reaktion ist, sich weiterhin unterzuordnen. Szolems jugendlicher Überschwang in der politischen/literarischen Szene scheint dem zu widersprechen, aber er war vorübergehend. In der weit wichtigeren mathematischen Szene passte das Klischee der ersten Generation auf Szolem, weil er als umsichtiger Konformist handelte, der sich sofort dem an die Macht drängenden Bourbaki anschloss. Auf mich dagegen passte voll und ganz das Klischee der zweiten Generation – im heutigen Frankreich kennt man das durch die Kinder der Einwanderer aus Afrika am besten. Ich neigte nie zu politischer Gewalt, wurde aber zum Nonkonformisten, zu jemandem, der ständig Fragen stellte und der Erfolg hatte, ohne sich einer bestehenden Schule anzuschließen oder für die wenigen richtigen Studenten, die ich später hatte, selbst eine zu gründen. Aus der Entfernung sieht Szolems wissenschaftlicher Lebensweg deshalb wie ein gerader Pfeil aus, meiner hingegen … tatsächlich wie ein Fraktal. Im reifen Alter zeigten sich jedoch viele Ähnlichkeiten. Es wurde wichtig, dass wir uns beide als »ideologische Flüchtlinge« von übertriebener Abstraktion absetzten. Szolem floh wegen Sierpińskis intellektueller und politischer Ansichten aus Polen, bei mir war es Bourbaki, das mich veranlasste, 1945 die École Normale und 1958 Frankreich zu verlassen.
Zwei Beispiele von milder Ironie: Sein ganzes Leben lang liebte Szolem zwei alte mathematische Themenbereiche namens Taylor- bzw. Fourier-Reihe, denen er auch getreu diente. Im 20.Jahrhundert hatte man sie zu einem Gebiet weiterentwickelt, das sich selbst als »schöne« oder »harte« mathematische Analysis beschrieb. Ihre Wurzeln aus der Physik wurden vergessen – mit Ausnahme eines gewichtigen Beitrags von einem Mann, der später eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen sollte: Norbert Wiener.
Nachdem Szolem mich dazu veranlasst hatte, mir diese Themenbereiche anzueignen, flog ich fort – ohne über Bord zu werfen, was ich gelernt hatte. In Szolems Lehrsätzen konnte die Liste der Voraussetzungen ganze Seiten einnehmen. Die Abgrenzungen, die er liebte, waren schwer zu definieren, und auf der von ihm bevorzugten Komplexitätsebene gab es weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung. Die Fragen, die er untersuchte, hatten einen langen Stammbaum innerhalb der reinen Mathematik. Für ihn war das ein Grund, stolz zu sein, für mich als Jüngeren aber eine Quelle der Aversion.
Ein frei umherschweifender Wissenschaftler sollte niemals nie sagen, und wie die Geschichte zeigt, können schöne Bestandteile der abstrakten Mathematik sehr wohl eine gewisse Zeit schlummern und von ihren fernen Wurzeln in der Realität abgelöst sein. Sie können sogar mausetot wirken – sollten aber niemals als erledigt
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