Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
niedergeschlagener Stimmung gab ich kurzfristig der Anziehungskraft nach, die mich weiterhin zur reinen Mathematik zog. Ich war hocherfreut, als mir die führende mathematische Fakultät der Universität von Chicago anscheinend eine Assistentenstelle anbot. Doch diese Stelle wurde in Wahrheit nicht bezahlt. An der Uni meinten sie, ich solle mich dennoch einschreiben, da der große Mathematiker Saunders Mac Lane einen Lehrassistenten für seinen Algebra-Kurs benötige und sicher in der Lage sei, mich zu unterstützen. Algebra war der mathematische Gegenstand, den ich am wenigsten mochte (das ist so geblieben), und ich war nicht bereit, mich um ihretwillen mit einer prekären Situation zu konfrontieren.
Kein Doktortitel, aber eine sehr gute Ausbildung und Gemeinschaft
Aliette habe ich zunächst und in erster Linie über das Caltech kennengelernt – obwohl dieses erste Zusammentreffen und unsere Hochzeit mehrere Jahre auseinanderliegen.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Allgemein gesehen zeigte die kleine Versammlung, die in meiner Zeit am Caltech durch Zufall oder Notwendigkeit zusammengekommen war, eine Qualität, wie ich sie sonst selten erlebt habe. Die geistige Spannung und das Gefühl, extrem außergewöhnliche Zeiten zu durchleben, waren mit Händen zu greifen und euphorisierend, aber auch beschwerlich – so ist mir das bis heute in Erinnerung geblieben. Diesen Eindruck sollte auch die Welt bekommen, da diese überaus kleine Hochschule in so wenigen Jahren eine erstaunliche Zahl von Nobelpreisträgern und dergleichen hervorbrachte. Zudem ist das Caltech vielleicht auch einmalig in seiner Art, weil es seinen ständigen Lehrkörper nicht erweitert.
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Mir machte das alles viel Spaß, ich genoss die Landschaft Südkaliforniens und gewann viele lebenslange Freunde. Der Physiker Donald Glaser und ich besuchten oft gemeinsam Konzerte, und ich verfolgte seine Karriere stets mit Aufmerksamkeit. Als experimenteller Hochenergiephysiker erfand er die Blasenkammer, die Thermodynamikspezialisten als unmöglich bezeichnet hatten – sie widerspreche den physikalischen Gesetzen, weil sie nicht mit einer Aussage in einem Buch des Physikers Enrico Fermi übereinstimme. Wie sich zeigen sollte, war diese Aussage falsch, und die Blasenkammer wurde zu einem grundlegenden Werkzeug, das Glaser den Nobelpreis einbrachte. Erst zu diesem Zeitpunkt verriet er, er sei von der Physik zur Molekularbiologie »bekehrt« worden. Er nahm an der Konferenz teil, auf der man anlässlich meines 70. Geburtstags meine Vielseitigkeit feierte, und erwartungsgemäß ergötzte er die Teilnehmer mit Beispielen seiner Vielseitigkeit.
Von besonderer Bedeutung war die Inter-Nations Association (INA) des Caltech, die Studenten aus dem Ausland und junge Leute aus der Stadt anzog. Die Hochschule unterstützte die INA – vielleicht finanzierte sie sie sogar. Wir lernten etwas über die Neue Welt und schilderten die Alte Welt für junge Amerikaner, die noch keine Möglichkeit gehabt hatten, sie mit eigenen Augen zu sehen.
Einer der Stammgäste der INA war Paolo Comba, ein Mathematikstudent aus einer protestantischen Ecke Italiens. Unsere Wege trafen sich wieder, als wir beide bei IBM waren. Im Ruhestand entdeckte er viele Kleinplaneten und setzte einer alten Freundschaft ein Denkmal, als er einem der größeren ganz diskret meinen Namen gab. Als junger Wissenschaftler beschäftigte er sich mit Babytomaten und sagte voraus, dass sie es schnell vom Labor in die Gemüsehandlungen schaffen würden. Und so kam es dann auch.
Das Caltech bestätigte meinen Zynismus gegenüber einer Ansicht, die an der Carva als selbstverständlich galt: Der Elitestatus einer Hochschule beruht darauf, dass sie viele Elitestudenten anzieht. Zu meiner Alterskohorte gehörten einige Elitestudenten, wichtiger waren jedoch die vielen Individuen mit kompliziertem und oft heldenhaftem Hintergrund aus der Kriegszeit.
Max Delbrück und die Geburt der Molekularbiologie
Auf dem kleinen Campus des Caltech war das lodernde Zentrum intellektuellen Lebens nicht im Flugzeugbau zu finden. Es fand sich in einer Gruppe, die von einem ehrgeizigen, brillanten und unabhängig denkenden Mann angeführt wurde, dem großartigen Max Delbrück (1906–1981).
Nach einem folgenlosen Jahr in Mathematik und Flugzeugtechnik traf ich Gunther Stent (1924–2008), der zu dieser Zeit physikalischer Chemiker war. Bei seiner Vorstellung gab er an, bei Delbrück promoviert zu
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