Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
haben, und erzählte mir, dass in einigen Tagen ein weiterer Postdoc ankommen werde, der Mikrobiologe Elie Wollman (1917–2008) vom Pasteur-Institut in Paris, zusammen mit seiner Frau Odile. In kürzester Zeit wurden Gunther und die Wollmans zu lebenslangen Freunden. Kurz darauf lernte ich den phänomenalen D. Carleton Gajdusek (1923–2008) kennen, einen akademischen Superstar. Ich war gesellschaftlich und intellektuell in der Szene der Insider angekommen.
Damals organisierte Delbrück dort gegen die Vorbehalte und die ausgesprochene Feindschaft mehrerer fest etablierter Seilschaften den Anfang einer neuen Art und Weise, sich als Biologe zu betätigen. Seine graduierten Studenten kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Am Caltech war zu jener Zeit der Begriff »Biophysik« ein verbotener Ausdruck. Doch schon bald erhielt ihre Arbeit die Bezeichnung »Molekularbiologie«. Allgemein bekannt wurde das Gebiet 1952 als Reaktion auf die Entdeckung jener Ikone der Naturgeometrie – der DNS oder Desoxyribonukleinsäure mit ihrer Doppelhelix. Schließlich verschmolz die Molekularbiologie mit der Biochemie, und mit der Genomforschung erreichte sie eine industrielle Größenordnung. Heute beklagen sich ihre Praktiker, sie gelte nun als ausgereiftes Wissensgebiet. 1949 dagegen gab es nichts, was von der langsam voranschreitenden Reife auf dem Gebiet der Flüssigkeitsmechanik weiter entfernt gewesen wäre.
Als preußischer Adliger – Junker – hatte Delbrück Deutschland verlassen, weil er Hitler keine Gefolgschaft schwören wollte. Einer seiner Cousins wurde später zu einem der Attentäter, die Hitler beinahe getötet hätten. Wie brachte er seinen beispiellosen Übergang von der Physik zur Biologie zuwege? Die Anfangsjahre waren unspektakulär. Er hatte den Eindruck, als Physiker hoffnungslos hinter Hans Bethe (1906–2005) und Victor Weisskopf (1908–2002) zurückzubleiben – beide seine Fast-Zeitgenossen im Umfeld von Wolfgang Pauli (1900–1958). Und ein Delbrück pflegte sich nicht mit dem zweiten Platz zu bescheiden. Die epochale Vorlesung über »Licht und Leben«, die Niels Bohr (1885–1962) im Jahr 1932 hielt, veranlasste ihn, zum Biologen zu werden.
Zusammen mit Salvador Luria (1912–1991), der später mit ihm gemeinsam den Nobelpreis erhielt, verfasste Delbrück einen Aufsatz, der Erwin Schrödinger (1887–1961) so beeindruckte, dass er ihn in seinem Buch Was ist Leben? herausstellte. Bei Kriegsende warb das Caltech neue Leute an und verschaffte Delbrück seine erste richtige Stelle als ordentlicher Professor für Biologie. Später folgten Physiker massenweise Delbrücks neuem Weg in die Biologie, und die einst verschmähte Biophysik wurde zunehmend akzeptiert. Er aber verließ, nachdem sein Gebiet etabliert und allgegenwärtig geworden war, seinem Temperament entsprechend dieses Feld für eines, das weit weniger erkundet war.
Eine verspätete »Behandlung« durch Delbrück
Delbrück als nachsichtige Persönlichkeit zu schildern käme wohl niemandem in den Sinn. Eines Tages fiel mir auf, dass unsere Zusammenkünfte nicht mehr durch die Anwesenheit eines Mannes beehrt wurden, von dem ich nur den Namen Harold in Erinnerung behalten habe. Auf meine Frage sagte man mir: »Harold hat seine ›Behandlung‹ abbekommen, sich dabei nicht gut geschlagen und wurde gefeuert.«
Für mich blieb Delbrücks »Behandlung« ein Mysterium, bis ich sie selbst viele Jahre später erlebte. 1979 wurde ich von dem Physiker Richard P. Feynman (1918–1988) eingeladen, ans Caltech zurückzukommen und eine Vorlesung über Fraktale zu halten (kurz danach entdeckte ich die Mandelbrot-Menge). Er und Delbrück saßen direkt vor meiner Nase nebeneinander. Die ganze Vorlesung hindurch nickte Feynman und lächelte anerkennend. Delbrück zeigte eine undurchdringliche Miene, und als wir hinausgingen, sagte er beiläufig: »Benoît, kommen Sie doch bitte morgen um 8 Uhr in mein Büro.«
Auf meinem Weg nach draußen ging ich durch den langgestreckten Korridor, in dem sich Studenten des Caltech aufgereiht hatten. Ich blieb stehen und erkundigte mich, ob sie irgendwelche Fragen hätten. Nein, sie wollten mich nur aus der Nähe betrachten. In früheren Jahren hatte ich mich unter ähnlichen Umständen ebenso eingereiht, um einen prominenten Dozenten aus der Nähe zu sehen. Nun war ich der prominente Dozent – mein Buch von 1977 hatte mich bei den Studenten bekannt gemacht.
Am nächsten Morgen schaute ich in Delbrücks Büro vorbei.
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