Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
»Gestern haben Sie den Namen Hausdorff erwähnt. Erzählen Sie mir mehr über ihn, damit ich feststellen kann, ob ich diesem Mann schon einmal begegnet bin … Sie haben das und das gesagt. Ich habe es nicht verstanden, drücken Sie es besser aus … Jemand hat das und das gefragt. Ihre Antwort war schwach. Können Sie das jetzt besser erklären?« Mir wurde plötzlich klar, dass ich gerade der berüchtigten »Behandlung« unterzogen wurde – ich beantwortete jede Frage und überlebte. Als die Tortur beendet war, lehnte er sich entspannt in seinem Sessel zurück und sagte in völlig anderem Ton: »Die Vorlesung war sehr gut. Ich habe eine Menge gelernt.«
Mein Kepler-Traum wird etwas präziser
Die Geburt eines neuen Wissensgebietes miterleben zu dürfen war für mich eine indirekte Erfahrung, die ich nie vergessen habe. Damit wurde mir ein erfreulicher Beweis geliefert, dass jemand mit meiner Neigung am Ende vielleicht doch eine Chance haben könnte. Vielfach ist gesagt worden, die Physik habe die erste Hälfte des 20.Jahrhunderts dominiert und die zweite Hälfte der Biologie überlassen. Sogar der Physiker Richard Feynman versuchte sich in Delbrücks Labor. Ich dagegen erwog nie ernsthaft, in dieses Lager zu wechseln. Stattdessen spürte ich neue Energie, hielt aber weiter Ausschau nach ähnlichen Pforten, die näher bei meinen Stärken lagen.
Mein Timing war ideal, weil sich, bedingt durch die Kriegszeit, mehrere vollkommen neue Entwicklungen »angestaut« hatten, die sich nun als eine Art Feuerwerk entfalteten, wie ich das zu keiner anderen Gelegenheit erlebt habe. Meine ruhelose Neugierde ließ mich Arbeiten lesen, die bei ihrem Erscheinen breite Diskussionen auslösten: Mathematical Theory of Communication von Claude Shannon, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine von Norbert Wiener und Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten von John von Neumann und Oskar Morgenstern.
Abgesehen von der flüchtigen und dann begrabenen Vorstellung, ich könnte 1949 über die Universität Chicago auf die Mathematik zurückkommen, kam mir allmählich der Gedanke, Wieners und von Neumanns Beispiel könnte mich möglicherweise auf eine Idee bringen, die großartig genug war, mich zum Delbrück irgendeines neuen Wissensgebietes zu machen. Genau das sollte ich in der Folge tun.
Allerdings nicht sofort. Ich nahm den Bus nach New York und unterbrach die Fahrt nur für Museumsbesuche in Cleveland und Detroit. Dann kehrte ich per Schiff und Bahn nach Paris zurück – was mich in die offenen Arme der französischen Luftwaffe führte, wo ich das nächste Jahr zubringen sollte.
11
Ingenieur der französischen Luftwaffe: Reserveoffizier in Ausbildung
(1949–1950)
Mein ganzes Leben lang war es ein Segen, dass ich mir – im Unterschied zu allen möglichen Bürokratien – nie Gedanken darüber machte, wer ich bin. Die französische Armee wollte es besonders genau wissen. Sie improvisierte dazu Arrangements, die nie zuvor benötigt worden waren und wahrscheinlich nie wieder gebraucht werden.
Erinnern Sie sich noch an die Examenshölle der Carva? Sie ging im Januar 1945 zu Ende, aber die Gebäude der Hochschule wurden mit zurückkehrenden Veteranen belegt, weshalb der Unterricht erst wieder im Oktober beginnen sollte. Meine Klassenkameraden füllten die Lücke mit sechs Monaten Grundausbildung in einer militärischen Spezialeinheit. Das befreite sie von späteren militärischen Verpflichtungen. Da ich als polnischer Staatsbürger nicht einberufen wurde, versuchte ich mich meiner Klasse als Freiwilliger anzuschließen, doch man lehnte mich ab und erklärte mir, für Ausländer gebe es nur die Möglichkeit, in die Fremdenlegion einzutreten. Man versuchte mich dazu zu überreden, konnte mich aber nicht überzeugen.
Als ich 1949 vom Caltech nach Frankreich zurückkehrte, machte Léon gerade seinen Abschluss, wodurch seine normale Studentenrückstellung endete und er für ein Jahr zur Ingenieurtruppe der Luftwaffe eingezogen wurde. Es erschien mir angebracht, meinen Status gegenüber der Armee zu klären. Wie hätte ich damit rechnen können, dass mein Übereifer einen Gordischen Knoten sichtbar machen würde, den zu lösen ein ganzes Jahr dauern sollte?
Da die Carva nominell eine Militärakademie war, blieben die Studenten fast die ganze Zeit über kaserniert. Wenn die Männer in meinem Semester von der Musterungskommission einbestellt wurden, erklärten die Behörden die Carva-
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