Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
landen würden. Zu jener Zeit war Kármáns gerühmte Kombination von Theorie und Praxis kein Klebstoff mehr, der die Welt zusammenhält.
Ein rettender Umstand lag darin, dass zwar die Studien der Dynamik glatter Strömungen gereift waren, die der turbulenten Flüssigkeiten aber nicht. Tatsächlich begannen sie gerade erst, ihre teuflische Komplexität zu entwickeln. An dieser Stelle ist eine Geschichte angebracht, die den großen Physiker Enrico Fermi (1901–1954) betrifft. Kurz vor seinem Tod wollten seine Freunde von ihm wissen, welche Frage er seinem Schöpfer als erste stellen wolle. Fermi antwortete: »Was ist die Ursache und die Natur der Turbulenz?« Anders gesagt: »Was ist der Wesenskern von Navier-Stokes?« Schließlich sollte es sich für mich als sehr hilfreich erweisen, dass ich den Kollegen am Caltech dabei zusehen konnte, wie sie über Turbulenz und die »spektrale« oder harmonische Analyse arbeiteten.
Lebewesen reifen, dann altern sie und sterben. Eine Wissenschaft dagegen kann sehr wohl von schlaffer Reife wieder zu stürmischer Jugend zurückkehren. Das geschah zum Beispiel mit der Allgemeinen Relativität, 1950 ein ausgereiftes Gebiet, oder mit der von Szolem geliebten Mathematik. Später trug die Chaostheorie zur Flüssigkeitsdynamik bei und ließ mich für ein bedeutendes Unternehmen auf sie zurückkommen: die Entwicklung einer Idee, die unter der Bezeichnung Multifraktale bekannt ist.
Die unvergesslichen Vorlesungen von Tolman, Liepmann und anderen
Nach der Carva waren die Lehrveranstaltungen des Caltech, wie schon angedeutet, eine Enttäuschung. Ein Seminar über Elastizität war zwingend vorgeschrieben, doch an der Carva hatte ich einen weiter fortgeschrittenen Kurs absolviert. Deshalb wagte ich es, viele Vorlesungen auszulassen. Meine Abschlussarbeit wurde mit E benotet: Anstatt das große Problem zu lösen, hatte ich gezeigt, dass es nicht lösbar war, weil etwas fehlte. Ich beschwerte mich und musste (darauf lief es hinaus) dem Dozenten ein paar heikle Punkte beibringen. Er gab nach, verweigerte mir aber ein A als Note.
Mit den letzten Vorlesungen von Richard Chase Tolman (1881–1948) erreichte die Arbeit in den Seminaren einen ausgesprochenen Höhepunkt. Sie behandelten statistische Physik oder Thermodynamik, ein überaus schwieriges und heikles Thema, das viele kampferprobte Wissenschaftler dazu bringt, um Hilfe zu bitten, zu fliehen oder grässliche Fehler zu machen. Tolman war kein Künstler seines Fachs und im Begriff, in den Ruhestand gehen. Seine Vorlesung leitete er aber mit einer Warnung ein – die Veranstaltung wende sich an jene, die den Gegenstand bereits kannten, und sei nicht dazu gedacht, den großartigen Formalismus der Thermodynamik zu vermitteln. Doch er versprach zu zeigen, weshalb sie funktionierte. Das hielt er ein, wobei er mit seinen Erklärungen viele der Mysterien zum Verschwinden brachte, die mich an der Carva verwirrt hatten. Dass ich von einem erfahrenen Meister etwas über diesen Gegenstand lernen konnte, hat meine Arbeit lange Zeit beeinflusst und dabei geholfen, dass meine Doktorarbeit und einige Aufsätze die logischen Grundlagen der Thermodynamik um einige Kniffe bereicherten.
Nach Tolman lernte ich am meisten in der Vorlesung über Flüssigkeitsmechanik von Hans Wolfgang Liepmann (1914–2009). Er legte nicht viel Wert auf Formalismen, wohl aber auf das richtige Verständnis der Physik hinter den Phänomenen. Als man ihn einmal wegen seines barschen Tons kritisierte, hörte ich ihn erwidern: »Nur weil ich Jude bin, hindert mich nichts daran, ein waschechter Preuße zu sein.« Er war, ehrlich gesagt, der einzige Professor, den ich je gefürchtet habe.
Ich erinnere mich mit Vergnügen an zwei Lehrer, die nichts mit Naturwissenschaft zu tun hatten. Der Stolz, den man am Caltech daraus bezog, dass man Kurse in Humanwissenschaften verlangte, war absolut berechtigt. Wallace Sterling, der Shakespeare unterrichtete, war als »Schwarzarbeiter« von der benachbarten Huntington Library gekommen und dazu ein angesehener Radiokommentator. Er wechselte bald darauf zur Stanford University, die er zu ihrem heutigen hohen Rang führte. Horace Gilbert gab einen Kurs über Wirtschaftsinstitutionen. Seine unbeirrbar konservative Einstellung war nicht nach meinem Geschmack, aber der Unterricht machte Spaß, und ich lernte eine ganze Menge.
Flugzeugkonstruktion mit Paul MacCready
Auf der Ebene der praktischen Anwendung habe ich mir erfreuliche Erinnerungen an
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