Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Opern diskutierte. Ich war gerade zum Anhänger der Kammermusik geworden, hatte aber fast keine Ahnung von der Oper. Zu den wenigen Opernschallplatten des Caltech hatten auch die unübertroffenen Glyndebourne-Mozart-Aufnahmen aus der Vorkriegszeit unter der Leitung von Sir Thomas Beecham oder Fritz Busch gehört. Françoise räumte ein, dass meine besondere Bewunderung für den Bassbariton John Brownlee in der Titelrolle von Mozarts Don Giovanni guten Geschmack erkennen ließ. Schon viel früher hatte ich selbstverständlich Carmen mit dem Tenor Georges Thill geliebt, dem Meister eines verschwundenen französischen Gesangsstils.
Ich wollte unbedingt möglichst viel über die Wunder der menschlichen Stimme lernen. Irgendwie wurde ich für eine Woche zu einer Luftwaffenbasis in Aix-en-Provence abkommandiert, wo kurz zuvor nach dem Vorbild von Salzburg ein Musikfestival mit Schwerpunkt Oper gegründet worden war. Dann folgte ein einwöchiges Kommando in der Nähe der gerade wiederbelebten Salzburger Musikfestspiele, wo ich große Interpreten hörte. In einem sehr kleinen und prunkvollen Raum spielte Yehudi Menuhin für zwei Dutzend Musikstudenten Bachs Chaconne für Solovioline. Wilhelm Furtwängler leitete eines der Brandenburgischen Konzerte Bachs mit den Wiener Philharmonikern – er dirigierte vom Cembalo aus und spielte dabei seine eigene (seltsame) Kadenz. Eine junge Frau lief nach dem Konzert die Treppen hinab und aus dem Gebäude. Sie pfiff wunderschön, und ich erkannte die berühmte Sopranistin Irmgard Seefried. Hier ist ein Bild von mir in Salzburg während dieser sehr angenehmen und interessanten Woche – es war mehr, als ich mir je vom Militär erwartet hatte.
Anschließend, bei einem Zwischenaufenthalt in Wien, ging ich in die Oper und hörte Carmen mit einer anderen großen Sopranistin, Hilde Güden, in einer Nebenrolle.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Die Oper wurde zu einer Leidenschaft. Ein richtiger Opernverrückter erinnert sich bis zum Todestag an die besten Aufführungen.
Mitte des 20.Jahrhunderts war der in Paris vorherrschende Geschmack in keiner Weise kühn: Claude Debussy und Maurice Ravel (schon lange tot) – gar nicht zu reden von Igor Strawinsky – galten in weiten Kreisen nach wie vor als moderne Wilde. Das erklärt auch die Heftigkeit der musikalischen Avantgarde Frankreichs, für die mein Zeitgenosse Pierre Boulez als Beispiel dienen mag.
Von da an gewöhnte ich mich allmählich an Angebote, die stärker abseits der gängigen Strömungen lagen. Ich rühme mich, Charles Wuorinen zum Freund zu haben, und stand dem 2006 verstorbenen Komponisten György Ligeti nahe. Es war eine besondere Entwicklung, die uns zusammengebracht hatte: die Beobachtung, dass Musik einen fraktalen Aspekt besitzt.
13
Doktorand und zugleich Angestellter bei Philips Electronics
(1950–1952)
1950 war ich ein nicht mehr ganz junger Mathematikstudent an der Universität von Paris, der nach einem guten Thema für seine Doktorarbeit suchte. Anders als heute vergab die Carva keine Doktortitel, so ging ich an die Universität – damals auf dem Tiefpunkt ihrer langen und oftmals glorreichen Geschichte.
Zu jener Zeit gab es den Doktortitel der Université de Paris in mehreren Abstufungen, weil in der Vergangenheit unterschiedliche politische Zwänge jeweils verschiedene Diplome mit Titeln erforderlich gemacht hatten. Die einzig relevante Variante war eine entsprechende Form der deutschen (und mittlerweile auch in Frankreich geltenden) Habilitation, das Doctorat d’État ès Sciences.
Was die Doktorarbeit anging, war ich mehr oder weniger auf mich allein gestellt, eine weitverbreitete und äußerst chaotische Situation. Doch für mich war das Chaos ein Geschenk des Himmels. Ernst zu nehmende Lehrer und aufgeklärte Mentoren hätten vielleicht mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Und da das Graduiertenstipendium sehr gering war, zog ich einen Job vor, der besser bezahlt wurde, aber mit einer Doktorarbeit vereinbar war, und fand eine Stelle bei Philips Electronics.
Verbale Prügel von Szolem, die mein Leben ändern
Seit ich die Normale abgebrochen hatte, hatte Szolem sich zunehmend über meinen Lebensweg geärgert. Als ich mit 28 Jahren einmal in diesem lebensrettenden Landhaus in Tulle vorbeischaute, verlor er die Beherrschung, und eine höfliche Plauderei kippte plötzlich in eine wütende verbale Attacke um, in eine altmodische »Einladung, mit mir hinters Haus zu kommen«.
»Du bist wie einer meiner
Weitere Kostenlose Bücher