Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Studenten vor dem Krieg, immer bereit, über ein neues Buch oder einen neuen Aufsatz zu diskutieren. Ich sagte ihm, wenn ich ihn das nächste Mal in der Bücherei sähe, würde ich sein Stipendium streichen und ihn hungern lassen. Er nahm es sich zu Herzen und schrieb in kürzester Zeit eine gute Doktorarbeit. Eine Tragödie, dass er im Krieg geblieben ist.
Zu viele gute Studenten sind nichts anderes als gut abgerichtete Affen; sie wissen alles, was man ihnen beigebracht hat – und sonst nichts. Wenn du weiterhin einer von dieser Sorte bleibst, wirst du – bestenfalls – ein sklavischer Gelehrter werden … wie so viele Leute aus unserer Familie. Du bist imstande, es besser zu machen. Wenn du es zu irgendetwas bringen willst, dann mach dich auf und finde heraus, was du tun kannst. Mach dich an die Arbeit – jetzt! «
Szolems Frau Gladys, eine nette Frau, die praktisch nie von seiner Seite wich, wiederholte die gleichen Vorstellungen in freundlicherer Form. »Du musst doch schon irgendeine Idee für eine Doktorarbeit haben. Schreib sie auf, dann siehst du weiter.«
Sonderbarerweise wirkte dieser Vorfall. Durch ihn kehrte sich meine Sicht der Welt – zumindest für eine Weile – buchstäblich um. Ich hörte auf, ein besserwisserischer intellektueller Dandy zu sein, und stürzte mich in die ernsthafte Suche nach einem angemessenen Thema für eine Dissertation.
Gladys brachte mich dazu, die bereits greifbaren möglichen Themen für die Doktorarbeit zu überdenken, und Szolem vermieste mir die »gut dressierten Affen«. Im Gegensatz zu Szolem genieße ich intellektuelles Geplänkel und gelegentliches Imponiergehabe. Ansonsten habe ich – genau wie Szolem – absolut keine Nachsicht mehr für derartige Spielchen.
Ich will damit aber nicht leugnen, dass mir die gute alte Gelehrsamkeit weiterhin Freude bereitet, was auch das Stöbern nach alten und verstaubten, in schwer zugänglichen Büchereiregalen verborgenen Büchern einschließt. In Szolems Augen war ein lebhaftes Gedächtnis abträglich für die Kreativität, doch in meinem Fall war die Gelehrsamkeit weder ein Nachteil noch eine wirklich sinnlose Zerstreuung. Ganz nebenbei profitiert auch der von mir praktizierte, an Kepler orientierte Forschungsstil ganz erheblich, wenn man Freude daran hat, Nachschlagewerke und in Vergessenheit geratene Texte durchzublättern. Dabei geht es nicht darum, sie passiv ins Gedächtnis einzuschreiben und dort beziehungslos zu speichern – vielmehr kommt es darauf an, sie durch dicke geistige Mauern hindurch oder über tiefe intellektuelle Abgründe hinweg miteinander zu verknüpfen. Insofern ist mein Gedächtnis von entscheidendem Wert gewesen – bis heute.
Eine Doktorarbeit scheitert, weil sie der Zeit weit voraus ist
Die Episode mit der »Abreibung« brachte mich dazu, mehr als üblich auf Szolem zu hören. Als Thema für die Doktorarbeit schlug er mir eine 1910 von den Mathematikern Gaston Julia und Pierre Fatou erstmals formulierte, heute als »quadratische Dynamik« bezeichnete Theorie vor, die ich bereits bereits erwähnt habe. Ich bemühte mich nach Kräften, gab jedoch – sehr zu Szolems Bestürzung – bald wieder auf, weil das Thema damals hoffnungslos »festgefahren« schien, aber auch weil ich ein junger Rebell war. Erst nach einer Bedenkzeit, die sich 30 Jahre hinzog, sah ich mich in der Lage, mich mit quadratischer Dynamik auseinanderzusetzen. Dabei entdeckte ich etwas, was sofort zur bekanntesten Gestalt des Gebiets wurde, nämlich die Mandelbrot-Menge.
Stattdessen schrieb ich eine etwas merkwürdige zweiteilige Doktorarbeit in den Naturwissenschaften, die alsbald durch eine bessere Arbeit abgelöst wurde. Aber sie bestimmte weitgehend meinen Lebensweg und – vermutlich – die Arbeit, die in einigen Wissenschaftsbereichen zu Richtungsänderungen führte.
Der erste Teil der Dissertation betraf George Kingsley Zipfs universelle und gesetzmäßige Verteilung von Wörtern. Der andere Teil war eine Einführung in die Grundlagen eines alten Gebiets der Physik, die allgemeine statistische Thermodynamik. Eines meiner Modelle für die Häufigkeit von Wörtern beruhte auf diesem zweiten Teil in einer sehr exotischen Form. Diese Mischung erwies sich leider als schreckliche akademische Methode. Wichtiger aber war, dass meine Gedanken in der Physik immer noch sehr im Fluss waren. Tatsächlich dauerte es noch sehr viele Jahre, bis sie für eine Veröffentlichung reif waren. 1952 sah man sie als wilde Mischung an, und
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