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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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mich einer weiteren und vollkommen anderen Herausforderung zu stellen. Juristischer Rat hätte vielleicht dieses eine verlorene Jahr verhindern können – aber ich glaube fest daran, dass es mir half, erwachsen zu werden.

12
Zunehmende Neigung zu klassischer Musik, Gesang und Oper
    Für Musik hatte ich keine Zeit übrig, bis mich ein Klassenkamerad an der Carva, Yves Charpentier, einlud, ihn zu einer öffentlichen Konzertprobe zu begleiten. Das Orchestre des Concerts du Conservatoire – das heutige Orchestre de Paris – bestand größtenteils aus Musikern der Oper, die an den Sonntagen im Théâtre des Champs-Élysées spielten. Die Generalproben am Samstagvormittag waren gegen ein geringes Eintrittsgeld für die Öffentlichkeit zugänglich. Charpentier, der sie regelmäßig besuchte, hatte dabei gern Begleitung. Und er wies darauf hin, dass unsere Carva -Uniformen dort bewundernde Blicke erregen würden.
    Aus Neugier und Einsamkeit sagte ich zu – und ließ mich für den Rest meines Lebens einfangen. Beethovens Symphonien – die ich vor dem 20.Lebensjahr nie gehört hatte – waren eine nicht in Worte zu fassende Offenbarung. Beim zweiten Konzert dirigierte der große Bruno Walter (1876–1962) die Fünfte, meine »Taufe« war also in der Tat hochkarätig. Nur ein paar Wochen später erklärte Charpentier, ich hätte nach meinen Anfängen als völliger Musikneuling alles, was ich hörte, aufgesogen wie ein trockener und durstiger Schwamm. In kürzester Zeit hätte ich mir dabei mehr Kenntnisse und Bildung angeeignet als er – und er habe doch schon sein ganzes Leben Konzerte gehört.
    Ich habe Charpentier ungeheuer viel zu verdanken und hatte geglaubt, wir könnten gute und enge Freunde werden. Doch eines Tages verschwand er ohne ein Wort. Ich war ebenso überrascht wie alle anderen, und diese Tatsache zeigt, dass wir uns abgesehen von unserer Liebe zur Musik nicht wirklich nah waren.
    Gleich nach meiner Ankunft im Caltech entdeckte ich die in einem großen Gesellschaftsraum abgehaltenen öffentlichen »Schallplattenkonzerte«. Ein anschließender Kontrollraum von beachtlicher Größe war fast vollständig mit riesigen Lautsprecherboxen – führenden professionellen HiFi-Geräten jener Zeit – ausgefüllt, und die Regale ächzten unter dem Gewicht der 78er-Platten. Drei Besucher waren schon Massenandrang, meist teilte ich mir den Raum mit John McCarthy, der später zum Mitbegründer der Computerwissenschaft werden sollte. Damals ein erklärter politischer Extremist der Linken, kritisierte er Henry Wallace wegen seiner Zurückhaltung, wünschte ihn sich aber 1948 als US-Präsidenten. Später machte er eine Wendung um 180 Grad und landete bei der extremen Rechten. Bei der Entscheidung, was zu spielen war, mussten John und ich einen Kompromiss finden. Ich bin ihm dankbar, dass er mich dazu zwang, mir Mahler anzuhören.
    In Pasadena hörte ich den Pianisten Vladimir Horowitz (1903–1989). Kurz nach einer der berüchtigten und langen »Unterbrechungen« war der große Saal recht leer! Eine erstaunliche Spieltechnik, aber es machte mich kribbelig und unruhig, ihm zuzuhören.
    Sehr viel angenehmer war eine Darbietung der damals noch unbekannten Rosalyn Tureck (1914–2003). Die »gescheite« und tiefsinnige Interpretin – eine wunderbare Einzelgängerin – spielte Klavierwerke von Bach. Jahre später lernten wir einander kennen; wir wurden Freunde, und ich erzählte ihr von diesem Konzert im Caltech. Als Wendepunkt war es in ihrer Erinnerung noch vollkommen gegenwärtig. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von der Menge nicht als Verrückte, sondern als Pionierin angesehen worden.
    Außerdem hörte ich – noch bevor ich meine Begeisterung für die menschliche Stimme entdeckte – die große Diva Lotte Lehmann (1888–1976) bei einer ihrer »letzten« Tourneen. Ihr Programm schloss Schuberts An die Musik ein; mitten im Lied versagte ihre Stimme, worauf sie unterbrach und sich entschuldigte. Viele ältere Zuhörer weinten – ich dagegen muss gestehen, dass ich mich gefragt habe, ob sie sich nicht einfach so verhielt, wie man das von Diven während ihrer »Abschiedstournee(n)« erwartet.
    Die Sekretärin meines Obersts im Büro der französischen Luftwaffe für wissenschaftliche Forschung, Françoise Mer, war keineswegs nur eine tadellose Aktenführerin oder Stenotypistin, sondern eine sehr kultivierte und musikalische Dame aus der Oberschicht, die nach einer Scheidung das Geld brauchte und gern mit mir über

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