Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
jeder Beobachter warnte mich vor einer Veröffentlichung. Der Graben zwischen den Themengebieten sei zu extrem. Zudem präsentierte der erste Teil einen Gegenstand, den es noch nicht gab, und mein Hauptziel war auch nicht, Linguisten zu Mathematikern werden zu lassen, sondern das Zipf’sche Gesetz zu erklären. Meine damalige Hast erklärt sich schlicht daraus, dass man mir bei einer Konferenz in London eine Postdoktorandenstelle am MIT angeboten hatte. Und weil ich so eilig loslegen wollte, war ich gezwungen, alles in die Doktorarbeit zu packen, was ich gerade zur Hand hatte. Da mir jegliche Beratung fehlte, war das Ergebnis unfertig und wurde zudem in gröblich unzulänglichem Stil präsentiert.
Die Vorstellung, einen Doktorvater zu haben, war damals in Paris einigermaßen neu. Szolem hatte keinen gehabt; Jacques Hadamard las seine Arbeit erst nach Szolems Verteidigung seiner These und wurde zu seinem Betreuer. Szolem hatte mir erzählt, wie er Hadamard fuchsteufelswild erlebt hatte, nachdem ihn jemand um ein Promotionsthema und um Betreuung gebeten hatte. »Können Sie sich das vorstellen? Wenn er kein eigenes Thema hat, sollte er gar nicht erst an eine Doktorarbeit denken!«
Jemand musste einen Bericht schreiben, dazu war ein Promotionsausschuss zu wählen. Diese Aufgabe fiel dem amtierenden Lehrstuhlinhaber im Fach Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematische Physik zu. Das Prestige dieses Lehrstuhls hatte mit dem großen Henri Poincaré seinen Gipfel erreicht. Paul Lévy hatte ihn wahrhaft verdient und ihn sich verzweifelt gewünscht, doch zunächst bevorzugte die Fakultät der Sorbonne die Fehlbesetzung Maurice Fréchet (1878–1973), danach ein wissenschaftliches Leichtgewicht, den klugen Statistiker Georges Darmois (1888–1960), der nebenher die Eisengießerei seiner Frau leitete.
Darmois war von Natur aus unfreundlich, und wir unterhielten uns immer im Stehen auf dem Flur, während viele andere herumliefen und darauf warteten, selbst an die Reihe zu kommen. Es kostete ihn wenig Zeit, einen weiteren Doktoranden zur Betreuung anzunehmen, und es ließ ihn gut aussehen. Wahrscheinlich hielt er es für ausgemacht, dass ich weiter bei Philips in Holland bleiben würde, weshalb er während eines Flugs nur einen Blick auf meine Doktorarbeit warf. Er hatte schon vorab – ohne mich zu informieren – beschlossen, ich würde es nur auf die belanglose »Brotliste« der Jobkandidaten schaffen und nicht auf die erwünschte Liste der engeren Auswahl.
Doch wie sollte diese Dissertation eingeordnet werden? An der naturwissenschaftlichen Fakultät gab es keine formalen Fachbereiche, und bei Darmois’ Lehrstuhl überschnitten sich Mathematik und Physik. Ich konnte mir eines von beiden aussuchen, mit jeweils unvermeidlichen Folgen. Aber meine selbst verschuldete Zwangslage interessierte niemanden, am wenigsten Szolem.
Zum Glück traf ich den Physiker Alfred Kastler (1902– 1984) zufällig auf der Straße. Kennengelernt hatte ich den außerordentlich netten Mann, einen engen Freund Szolems, als ich zwölf Jahre alt war. Nachdem er später den Nobelpreis erhalten hatte, erklärte er öffentlich, ein lebenslanger Mitarbeiter habe die gleiche Ehrung verdient. Es war unmöglich, die Medaille aufzuteilen, aber er ließ Szolem zumindest die Hälfte des Preisgeldes zukommen. Später verfasste er ein Buch, das im Deutschen unter dem Titel Deutsche Gedichte eines französischen Europäers erschien. Er war im Elsass zur Welt gekommen, und als er aufgrund einer speziellen Vereinbarung in die École Normale eintrat, sprach er nur Deutsch. Während des Kriegs lief er nie zu Hitler über, sicherte Szolems Wohnung, indem er dort wohnte, und zog aus, als Szolem zurückkehrte. Dieser Mann war auf Nuancierungen eingestellt, und es irritierte ihn nicht, zwischen zwei Kulturen zu leben. Er war genau der richtige Mann, den ich um Rat fragen konnte. Wir blieben stehen und hörten auf zu plaudern. Ich skizzierte das Thema meiner Doktorarbeit und schilderte mein Dilemma.
Er seufzte, weil er Schlimmes ahnte, und bekräftigte, irgendjemand hätte mir davon abraten sollen, zwei verschiedene Themenbereiche zu kombinieren – ganz besonders deshalb, weil keiner der beiden zu einem Job führen würde. In der Thermodynamik passierte nichts, und es gab dort keine Stellen mehr; und eine quantitative Linguistik gab es nicht … noch nicht. In der Physik würde ich mit einer ziemlichen Flut starker Dissertationen über derzeit moderne Themen
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