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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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vielen Kepler-Momenten meines Lebens. Kurz darauf befasste ich mich näher mit Zipfs Buch. Seine Tabellen bestätigten, dass die Zipf-Mandelbrot-Formel eine erhebliche Verbesserung darstellte. Allerdings zeigte sich auch eine Schwierigkeit: Für gebräuchliche Wörter mag es eine hinreichend definierte Wahrscheinlichkeit geben. Was aber ist mit seltenen Wörtern, speziell in gemeinschaftlichen Werken vieler Autoren oder zusammengesetzten Texten in Zeitungsartikeln? Mit der Zeit entdeckte ich eine Menge Probleme – die nach wie vor ungelöst sind.
    Diese Ereignisse vermittelten mir eine grundlegende Lektion – wer angewandte Mathematik betreibt, hat eine mit Problemen beladene Beziehung zur Wirklichkeit. Schlimmer noch: Experimentelle Wissenschaftler versuchen zu helfen, indem sie vereinfachen, was sie sehen, wobei entscheidende Tatsachen oft unbeabsichtigt übersehen werden. Diese Wissenschaftler muss man respektieren, aber man darf ihnen nicht blind vertrauen.

Ein Fall von belohnter Eile?
    Wie durch ein Wunder ist die Kopie der Besprechung von Zipfs Buch durch Walsh in meinen Unterlagen erhalten geblieben und wieder aufgetaucht, als ich diese Erinnerungen verfasste. Ich legte Wert darauf, sie nach all den Jahren noch einmal zu lesen. Inzwischen ist mir klar, dass ich sie damals in meiner Aufregung flüchtig las und mich eilig an die Arbeit machte.
    Walshs Besprechung enthielt auch folgende Worte, die ich entweder verpasst oder vergessen hatte:
    Vorherzusagen, dass im Gefolge der Geschichte der Mechanik nun eine neue Wissenschaft menschlichen Verhaltens im Entstehen begriffen sei, wäre voreilig, doch es wäre dumm, die Lektionen dieser Geschichte zu ignorieren … Tycho Brahe … machte zahlreiche Beobachtungen über die Bewegungen der Planeten, die Kepler heranzog, um grundlegende Gesetze zu formulieren … und Newton … wiederum begründete die Wissenschaft der Mechanik … Die Zeit ist reif für neue Tycho Brahes, Keplers und Newtons!
    Es könnte sich als fruchtbar erweisen, Sprache als Naturphänomen zu erforschen … nach Art der exakten Wissenschaften … als eine spezielle Verhaltensform.
    Schande über mich! Ich hatte vergessen, dass Walsh Kepler namentlich genannt hatte. Mein erster Kepler-Moment betraf lange Kurvenausläufer, was auf unheimliche Weise mit meinem maßlosen Traum korrespondierte. An diese letzten Worte musste ich erinnert werden. Ich weiß noch genau, dass die Kepler’schen Möglichkeiten mich in ihren Bann zogen und die fehlende Geometrie mich nicht störte – es sollte lange dauern, bis sie zu einem zentralen Faktor wurde.
    Von Anfang an gab es da jedoch einen Schatten – dem Beispiel, mit dem ich arbeitete, mangelte es an bedeutsamen Folgerungen. Niemand hätte vorhersagen können, dass ich als »Kepler der Worthäufigkeiten« und dann allgemeiner als »Vater der langen Kurvenausläufer« bezeichnet werden würde. Innerhalb von 50 Jahren ist all das von einer kaum erwähnenswerten Verirrung ins Zentrum weitreichender Aufmerksamkeit in den frühen 2000er-Jahren gelangt. Hätte ich mich von einer scheinbar »verheißungsvolleren« Perspektive aus angenähert, wäre ich sicher gescheitert. Mein Glück dauerte an.
    Es ergaben sich schnell einige Fragen. Mit den aufkommenden Forschungscomputern zeigte sich, dass Zipfs Arbeit wohlwollend beurteilt werden konnte und – in mathematisch lauteren Kreisen – Anhänger fand. Hätte Walsh bemerkt, dass Zipfs ursprüngliche Formel Unsinn war, hätte er seinen Freund abgehalten. Warum führte diese Rezension nicht dazu, dass noch irgendjemand mit zumindest gleichwertiger mathematischer Kompetenz auf die Arbeit aufmerksam wurde?

Vom ungebärdigen Anfänger zum »Vater der langen Ausläufer«
    Ich hatte das Schlüsselthema der Thesen meiner Doktorarbeit in der Hand: die sehr simple Mathematik hinter der unerwarteten Verteilung der Worthäufigkeiten. Am 19.Dezember 1952 waren die Würfel so oder so gefallen. Meine Dissertation stellte sehr deutlich meine Kepler’sche Entschlossenheit heraus, zu einem wissenschaftlichen Einzelgänger zu werden – ich wollte mich nicht mehr mit den Denkkategorien meiner Umgebung abfinden. Zu einer Zeit, in der die Wissenschaft sich beeilte, die Wege der straffer organisierten Kirchenreligionen zu übernehmen, entschied ich mich bildlich gesprochen dafür, zum Eremiten-Lehrling zu werden. In der Überzeugung, dass diese Orientierung nie mehr rückgängig gemacht werden konnte, dachte ich nicht mehr daran, jemals

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