Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
übergreifende Probleme zu entwickeln. Ich hatte bei Weitem nicht den Ehrgeiz, mich an ihren gediegenen Leistungen zu messen, und herausragendere Mentoren hätte ich mir nicht vorstellen können.
Norbert Wiener vom MIT
Die überragenden Kepler’schen Leistungen Norbert Wieners (1894–1964) waren seine mathematische Theorie der Brown’schen Bewegung und die Kybernetik – das Wort und das Buch. Um das Jahr 1700 wusste Isaac Newton, dass Prismen das Licht in verschiedenfarbige Bestandteile zerlegen. Doch die mathematische Theorie dazu wurde erst viel später geliefert — von Wiener. Eine ähnliche Leistung, seine Theorie der Brown’schen Bewegung, beeinflusste mein Leben erst später – als miserables Modell für die Variation von Preisen im Wettbewerb und als Gewimmel mit einer Grenze, die fraktale Inseln bildet. Aufregend war, was er selbst über seine frühen Beweggründe berichtet hat. Nachdem der Anblick von Pollenbewegungen unter einem Mikroskop sein Interesse geweckt hatte, kam er zu dem Schluss, für die Lösung müsse etwas namens Lebesgue-Integrale verwendet werden – damals noch eine Neuheit und nur für Eingeweihte ein Begriff.
Als Anhänger Wieners habe ich nie versucht, die von ihm aufgeworfenen fachlichen Probleme weiterzuentwickeln. Ich zog es vor, entweder seitwärts weiterzugehen und neue fachliche Probleme aufzutun, oder begrifflich neue Wege zu nehmen, die über das Brown’sche Gebiet hinausgingen. Dennoch ist Wieners Werk für mich ein strahlender Leuchtturm geblieben.
Er war ein mathematisches Genie – eine in weiten Kreisen gefeierte Persönlichkeit des Establishments. Er wurde zur Führungsfigur einer wissenschaftlichen Avantgarde, von der er hoffte, dass sie wachsen und die mit der Kommunikation sowie Steuerung von Maschinen und Lebewesen verbundenen Probleme abdecken würde. Um diesem Ziel einen Namen zu geben, ehe es auch nur teilweise erreicht war, nahm er ein griechisches Wort und prägte daraus den Begriff »Kybernetik«. Ich hörte dieses Wort schon sehr früh. Als Wiener 1947 in Paris war, lud Szolem ihn zum Mittagessen ein und bat mich, ihnen beim Kaffee Gesellschaft zu leisten.
Wiener war ein Meister auf einem mathematischen Gebiet, das dem Szolems sehr nahe war, und sie hatten gemeinsam Aufsätze verfasst. Szolem sah zu seinem kaum älteren Freund auf, erkannte jedoch an, dass seine und Wieners Mathematik in konkreten, aber schon Jahrhunderte alten Zusammenhängen entstanden waren. Frische Impulse aus der Naturwissenschaft erschienen Szolem unerträglich, und so war stets eine Unterströmung von Irritation vorhanden.
Für einen Mathematiker bezeichnet der Ausdruck »Funktion« häufig etwas, das sich mit der Zeit verändert. Wiener bevorzugte dafür den Ausdruck »Rauschen«. Szolem ärgerte sich und äußerte Verwunderung. War es ein Manierismus aus Wieners Tätigkeit als Militärberater oder einfach eine Art Angeberei? Ich meinte, Wieners abgehobene Mathematik sei einzigartig und Teil seines lebenslangen Bestrebens gewesen, physikalische Fluktuationen zu verstehen. Er wollte »über den Zaun hinaus« auf Ingenieurwissenschaften, Biologie und Gesellschaftswissenschaften schauen – nicht aber auf eine eng definierte Wirtschaftswissenschaft.
Jerry Wiesners RLE, eine ideale Forschungsumgebung
Angetrieben durch Norbert Wieners Kybernetik … hat dieser einzigartige wissenschaftliche Brutkasten, das Forschungslabor für Elektronik (RLE), über vier Jahrzehnte hinweg eine fast ideale Forschungsumgebung geboten und ist ein Vorbild für die Struktur anderer Forschungszentren gewesen … 1946 konnten wir uns die Aufregung und die intellektuelle Freude, die vor uns lagen, noch kaum vorstellen. Wenn ich zurückschaue, habe ich wahrhaft den Eindruck, es waren starke Persönlichkeiten und noch stärkere Ideen, die Menschen aus aller Welt anzogen. In meiner Erinnerung sehe ich große, erfreuliche Unschärfe, die meinem inneren Film von der spontanen Schöpfung des Universums recht nahe kommt.
Diese Worte sprach Jerry Wiesner am MIT während der Feier anlässlich des 25.Jubiläums des Research Laboratory of Electronics (RLE), einer höchst bemerkenswerten Institution; nach meiner Promotion war ich dort hingegangen, um meine Ausbildung fortzusetzen. Als ich Jerome B. Wiesner als Leiter des RLE kennenlernte, war er Professor Wiesner; später wurde daraus der Berater Dr. Wiesner, und er beendete seine Karriere am MIT als der unvergessliche Präsident Wiesner. Wir kannten ihn als
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