Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
zierlich, zurückhaltend und leise. Nachdem ich ihn kennengelernt hatte, hörte ich, er sei ein bekannter und produktiver Forscher gewesen – tatsächlich war er einigermaßen berühmt geworden, weil er fast ein seltsames Phänomen namens Suprafluidität sehr kalten Heliums erklärt hatte. Allerdings hätten – wie man sofort hinzufügte – schwere Fehler in seiner Arbeit von seinem früheren Doktorvater, dem Starphysiker Lev Landau (1908–1968) korrigiert werden müssen. In Wahrheit hatte Tisza keinen Fehler gemacht; ihm stand die Anerkennung zu, die man ihm vorenthalten hatte. Tisza war Landau – einer Persönlichkeit mit vielen Mängeln – zum Opfer gefallen, lebte jedoch lange genug, um die entsprechende Anerkennung doch noch zu erhalten. Anstatt lauthals das vollständige Verdienst für sich einzufordern, nominierte er Landau für einen Preis für diese Arbeit.
Nach einem im Sommer 1956 am MIT abgehaltenen Symposium zur Informationstheorie hatten wir für einige Jahre viel miteinander zu tun. Die Arbeit, die ich dort vortrug, beschrieb eine Axiomatik zur statistischen Thermodynamik, die eine Weiterentwicklung der zweiten Hälfte meiner Dissertation darstellte. Als ich Tisza bat, meinen vorab bereitgestellten Text zu kommentieren, lobte er ihn artig und bezeichnete sich bei dieser Gelegenheit als mein Schüler! Angesichts des Altersunterschieds waren seine Worte im Rahmen der vorher festgelegten Diskussionsbeiträge eine Seltenheit: Balsam für meine Seele.
Tisza war ein sehr hilfreicher Lehrer. Es war mir eine Freude, den Anstoß für eine vorgezogene Feier seines 100. Geburtstags zu geben. Ein großer Raum war gut besetzt, ein paar Leute kamen von weither, die Stimmung war herzlich und insgesamt fröhlich. In seinem Leben hatte es nur wenig unnötigen Krach und gegen Außenstehende gerichteten Zorn gegeben, dafür aber hatte es für viele Reflexionen bei seinen Freunden gesorgt und ihm Vergnügen verschafft. Es war ein langes Leben, und zu dem immerwährenden Gebäude der Physik hat Tisza zumindest einen soliden Ziegelstein beigetragen. Viele Mysterien bleiben offen, doch die Vielfalt möge lange leben. Ich war sehr bewegt.
Der Einfluss von Wohlstand auf die Wissenschaft
Warum fand ich das RLE so attraktiv? Weil es Wiener nahestand, aber vor allem wegen der Ambitionen des RLE, jene Art von Ort zu bieten, die ich oben geschildert habe. Nach Jahren fast völliger Einsamkeit in Paris war ich begierig auf eine offenere und abwechslungsreichere Umgebung, in der ich leben konnte und die mir bei meiner Entscheidung helfen sollte, ob ich in der eingeschlagenen Richtung meiner Dissertation weitermachen wollte oder nicht.
Ich bewunderte dieses große Gründerzentrum phantasievoller Wissenschaft und Technik und war enttäuscht, dass die mir bekannte Form keinen Bestand hatte. Es gab jedoch viele Gründe, weshalb es sich nicht halten konnte. Wie der Gegenstand meiner Dissertation war das anscheinend perfekte Timing des RLE nicht aus einer brillanten langfristigen Planung hervorgegangen, sondern aus einer Nachkriegsperiode voller Vertrauen in die wohltätige Macht der Wissenschaft und aus dem Aufbau von Erwartungshaltungen, die von vielen äußeren Faktoren abhingen. Die geistige Gesundheit des RLE war weitgehend auf die finanzielle Gesundheit der Kommunikationsindustrie angewiesen. Als die Technologie weiter voranschritt, ging die Rolle des Gründerzentrums auf die Computer über – also auf Institutionen wie IBM Research.
Schon früh zwangen Pressionen von außerhalb die Universitätsfakultäten zu einem gewissen Maß an Breite und Geschlossenheit, was Überschneidungen verursachte. Als Mathematik und Physik jedoch plötzlich zu Reichtum kamen – als eine ansteigende Flut alle Boote anhob –, gestatteten sie sich eine Art »ethnischer Säuberungen« und schränkten ihre Bandbreite auf sehr reine Themen ein, auf Kernbereiche.
Ganz untypisch standen Kommunikation und später Computer in scharfem und höchst erfreulichem Kontrast dazu. Jeder entschied sich, seine Rolle sehr breit zu interpretieren. Leider erinnern sich nur noch ein paar alte Männer an die wundersame Mixtur aus prä-akademischer und post-akademischer Technologie und Wissenschaft des RLE.
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Als John von Neumanns letzter Postdoc in Princeton
(1953–1954)
»Ich muss protestieren. Das ist die schlechteste Vorlesung, die ich je gehört habe. Nicht nur, dass ich keinen Zusammenhang mit dem Titel erkennen kann, was wir gehört haben, ergibt
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