Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Jerry.
In diesem Zitat kommt es entscheidend auf die Worte »aus aller Welt« an, und das Wort »spontan« am Ende ist sehr bedeutsam. Alle, die Jerry kannten, können bezeugen, dass er sich in seinem »inneren Film« nicht als Schöpfer sah, sondern als Moderator. Er war in der Tat einer der seltenen Manager, die es möglich machten, dass das Schöpferische anscheinend »spontan« auftritt. Das RLE war eine bemerkenswerte Kreuzung aus der alten akademischen Tradition der wissenschaftlichen Solisten und der neueren Gruppe von Akademikern, die man vom berühmten Radiation Laboratory der Kriegszeit geerbt hatte – dort war das Radar erfunden worden.
Es war die Glanzzeit des RLE. Jerry war das genaue Gegenteil von Wiener, obwohl die ähnlichen Namen (besonders wenn fremdsprachige Akzente im Spiel waren) häufig zu – meist harmloser – Verwirrung führten.
Für einen großen Boss am Radiation Laboratory während des Zweiten Weltkriegs war Jerry erstaunlich jung gewesen. Er selbst war kein vollendeter Wissenschaftler, verfügte aber über eine ungewöhnliche Gabe: Er hatte einen scharfen Blick für vollen persönlichen Einsatz (der einen sehr großen Anteil des wissenschaftlichen Wertes ausmacht), einen ausgeprägten Sinn für »noblesse oblige« und war in der Lage, mit allen zusammenzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass die Dinge erledigt wurden. Er wusste einfach, wie man eine Organisation ohne Selbstherrlichkeit leitet: mit unsichtbarer Bürokratie, aber einem Maximum an Respekt für die ihm Anvertrauten – einschließlich vieler gründlich verzogener Gören. In seiner Nähe kam ich mir immer wie ein Kind vor.
Schon früh gelangte er in die Umgebung des Senators John F. Kennedy. Als JFK ins Präsidentenamt aufstieg, wurde Jerry sein wissenschaftlicher Berater – er war effektiver und stand mehr im Vordergrund als alle vor oder nach ihm. Zurück am MIT, stieg Jerry Schritt für Schritt auf und wurde dessen Chef – in einer Zeit, in der die Neue Linke auf dem hohen Ross saß und das Institut gefährdet schien.
Zufällig hörte Jerry mich 1952 bei einer Vorlesung in London; ihm gefiel mein Vortrag und die muntere Diskussion, die er auslöste. Das muss man sich einmal vorstellen – ich diskutierte mit der Ethnologin Margaret Mead (1901–1978), die mit der Untersuchung des Sexuallebens der Südseeinsulaner berühmt wurde! Dass sie meine Vorlesung besuchte, illustriert die wunderbar lockere Stimmung jener weit zurückliegenden Jahre. Wie es seine Art war, lud Jerry mich praktisch ohne jeden Papierkram nach drüben ein. Damals war er außerordentlicher Professor und saß wie viele andere Mitarbeiter im offenen Verschlag eines Großraumbüros. So war er nahe an der Truppe.
Das RLE war in Haus 20 untergebracht, einer großen labyrinthischen Baracke, die man hastig aus Holz, Teer und Asbest zusammengezimmert hatte. So konnte das Radiation Laboratory den Bau rasch an wechselnde Bedürfnisse anpassen. Wie alles andere war auch mein Stuhl ramponiert und wacklig – aber große Klasse, da auf einem an der Lehne angebrachten Schild Lee DuBridge zu lesen war. Ehe er in meinen Studententagen Leiter des Caltech wurde, war er der große Boss des Rad Lab gewesen. Dass der Stuhl überlebt hatte, war ein Beleg dafür, dass freischwebende wissenschaftliche Forschung – wenn man sie richtig leitet – keine finanzielle Extravaganz ist, sondern ein echtes Schnäppchen.
Nordöstlich des ehemaligen Gebäudes 20 befindet sich ein Viertel namens East Cambridge, das mittlerweile mit hoch aufragenden Industrielaboren und Wohnungen der gehobenen Kategorie bebaut ist – dort wohne ich. Damals gab es dort eine Mischung aus flachen Industriebauten und billigen Behausungen. Häufig zogen durch das RLE deshalb entweder die Düfte einer traditionellen Schokoladenfabrik oder der Gestank einer Wiederverwertungsanlage, die Schlachtabfälle zu reiner weißer Seife verkochte. Ich nahm all das und noch mehr als ständige Bestätigung dafür, dass der schöpferische Prozess seiner Natur nach ein heilloses Durcheinander ist und unter seelenloser Ordnung mehr leidet als unter einer ungünstigen Umgebung.
Umstrittene Balance zwischen Vermutung und Beweis
Claude Shannon (1916–2001) war der intellektuelle Anführer, dessen Arbeit aus Kriegszeiten, 1948 veröffentlicht, die Informationstheorie hervorgebracht und dem RLE ein geistiges Rückgrat verschafft hatte. Seine Arbeit über rauschfreie Kanäle war ein Ausgangspunkt für die in meiner
Weitere Kostenlose Bücher