Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
absolut keinen Sinn.«
Wir waren am Institute for Advanced Study in Princeton, und eine Koryphäe namens Otto Neugebauer (1899–1990), ein Mathematiker, der es zum berühmten Historiker der babylonischen Astronomie gebracht hatte, äußerte sich zu einer Vorlesung, die ich soeben gehalten hatte.
Erstarrt und mit offenem Mund stand ich da, als der Physiker J. Robert Oppenheimer (1904–1967), der Vater der Atombombe, aufsprang. »Darf ich antworten, Otto? Falls Dr. Mandelbrot es gestattet, würde ich gern ein paar Worte dazu sagen. Der in der Ankündigung dieser Vorlesung genannte Titel war ein vorläufiger Versuch und hätte geändert werden sollen. Doch ich hatte das Privileg, von seiner Arbeit zu hören. Ich bin beeindruckt, befürchte aber auch, er könnte seinen überzeugenden Ergebnissen nicht völlig gerecht geworden sein. Wenn er gestattet, würde ich gern kurz skizzieren, was ich behalten habe.«
Die Hörerschaft war wie festgenagelt, weil sie unerwartet einen der »Oppie-Vorträge« zu hören bekam, für die er berühmt war. Er konnte jedes Seminar, an dem er teilnahm, in wenigen fehlerlosen und druckreifen Sätzen zusammenfassen und dem Dozenten – oft zum ersten Mal umfassend – vorführen, was er da vollbracht hatte und den Hörern hätte mitteilen sollen.
Als er sich wieder setzte, erhob sich John von Neumann, der Vater des Computers. »Ich habe Dr. Mandelbrot eingeladen, das Jahr hier bei uns zu verbringen, und wir haben sehr interessante Gespräche geführt. Wenn er es gestattet, möchte ich ein paar Punkte skizzieren, die ich noch erinnere, Oppie aber nicht erwähnt hat.« Das gebannte Publikum bekam dann noch einen »Johnny-Vortrag« verpasst – ähnlich überzeugend und mit starkem ungarischem Akzent vorgetragen. Das Treffen hatte sich vom tiefsten Abgrund zu unvergesslichen Höhen aufgeschwungen und endete im Triumph.
Nachdem ich das MIT verlassen hatte, verbrachte ich das Jahr 1953/54 am IAS als letzter Postdoc, den von Neumann förderte. Während eines Gesprächs mit Oppie im Pendlerzug war eines Tages die Idee zu dieser Vorlesung zustande gekommen.
John von Neumann
Viele reine Mathematiker, die ich gut kannte – wie Szolem oder Paul Lévy –, hatten sich nicht auf andere Gebiete eingelassen. John von Neumann (1903–1957) war ein vielseitiger Mann – sehr begehrt – und in allem ein anerkannter Lehrmeister. Sehr zum Erstaunen der mathematischen Wissenschaften visierte er immer wieder Probleme an, die man allgemein zu den aktuell anspruchsvollsten zählte, und kam dank seines Tempos, seiner geistigen Beweglichkeit und seiner unübertrefflichen Energie zu Lösungen, die sofort Zustimmung fanden. Abgesehen von seiner Bereitschaft, viele unterschiedliche Untersuchungen anzugehen, suchte er anscheinend nicht vorsätzlich nach irgendeinem Heiligen Gral oder Goldenen Vlies des Geistes. Von den abstraktesten Grundlagen reinster Mathematik bis hin zur strategischen Beratung für US-Präsidenten ließ von Neumann, angetrieben von unersättlicher Neugier und unabhängig aufgrund persönlichen Wohlstands, seiner Vorstellungskraft freien Lauf. Kaum hatte er gehört, dass ein Gebiet »heiß« geworden war, stürzte er sich in die Wettbewerbsarena und machte sich zum Experten, der einige entscheidende Fragen herausarbeitete, die er lösen konnte.
Von Neumann verbrachte eine »normale« Kindheit. Das galt ebenso für andere Ungarn dieser berühmten Altersgruppe. Auch Eugene Wigner (1902–1995) und Edward Teller (1908–2003) gelangten in den USA zu hohem Ansehen und einem erheblichen – wenn auch weniger extravaganten – Niveau der Vielseitigkeit, weil sie abstrakte Fähigkeiten mit dem Interesse an Anwendungen in sich vereinten. Die glanzvolle Kultur, zu der sie alle gehörten, verschwand nach dem Zusammenbruch der Habsburger Doppelmonarchie im Jahr 1918, und Ungarn verlor die Hälfte seiner historischen Ländereien. Demzufolge wurde ihre Entwicklung durch einen äußeren Faktor massiv beeinflusst. Von Neumann begann in den 1920er-Jahren mit einer grundlegenden Dissertation in Logik, speziell der abstrakten Mengentheorie. Anschließend vollbrachte er zwei große Arbeiten, die ich gut kannte. Zunächst formalisierte er die Grundlagen der Quantenmechanik. Vor dieser Arbeit hatte es zwei konkurrierende Ansätze gegeben. Sie sahen sehr unterschiedlich aus, doch er zeigte, dass sie gleichwertig waren und übereinstimmende Resultate lieferten. Später »erfand« er die Spieltheorie, die seiner
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