Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
an. Doch ich sollte dieses Spielzeug in ein wesentliches Werkzeug der Volkswirtschaftslehre verwandeln. Allerdings machte mir ein Satz in besagtem Lehrbuch Sorgen. Also suchte ich Kolmogorow auf. Meine Resultate überraschten ihn sichtlich, und er lobte sie überschwänglich. Dann fragte ich ihn nach Referenzen für die im Lehrbuch behaupteten Vorläufer. Er wechselte das Thema. Mein Verdacht, dass es diese Referenzen nie gegeben hatte, hatte sich bestätigt.
Wieners nicht offenkundige Beweggründe sind in seinen Memoiren dargestellt. John von Neumann schien die aktuell heißesten Themen zu suchen. Und wie steht es um Kolmogorows Motive? Ein Vortrag, den er 1962 in Marseille über Turbulenz hielt, war nur eine grobe Skizze, der er nie eine Arbeit folgen ließ, die seinen hohen Standards gerecht geworden wäre. Als dann Russen aus der Umgebung Kolmogorows in den Westen kamen, fragte ich sie nach den Auslösern jenes Aufsatzes über Turbulenz. Und wieder erhielt ich keine Antwort.
Ich glaube immer noch, dass die Frage aus Sicht der Einheit der Mathematik bedeutsam ist, und hoffe weiterhin, dass eine kühnere Seele mit gutem Hintergrundwissen uns hier belehrt. Außerdem würde ich gern die Geschichte lesen, wie ein Waise aus einer kleinen ethnischen Enklave in Russland es zu so hohem Ansehen und zu solchem Respekt bringen konnte.
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Liebeswerben und Heirat mit Aliette
(1955)
Chronologisch ist Aliette nach Mutter die wichtigste Frau in meinem Leben. Natürlich. Kurz nach meiner Entlassung aus der Luftwaffe lernten wir uns im Oktober 1950 kennen. Wir hatten es nicht eilig, unsere Lebenswege zu vereinen, und heirateten nach fünf Jahren der Bekanntschaft. Daher ist unsere Goldene Hochzeit, wie auch immer man zählt, schon längere Zeit vorbei. Ein gemeinsames Merkmal aller bedeutsamen Ideen ist, dass sie ungenau definiert sind.
Traditionsgemäß heirateten meine Eltern erst, nachdem Vater sich als verlässlicher Ernährer etabliert hatte. Dass ich selbst lange brauchte, um sesshaft zu werden, war mir vollkommen bewusst, denn als ich sah, wie Freunde und auch mein jüngerer Bruder heirateten, war es offensichtlich, dass ich eher noch warten sollte.
Meine Aktivitäten der Jahre 1954/55 ließen mir eine Menge Zeit, Aliette den Hof zu machen – der Cousine zweiten Grades meines Kommilitonen vom Caltech, Leon Trilling. Er hatte für 1950/51 ein Reisestipendium, beschloss, es in Paris zu nutzen, und bat mich, für ihn eine Wohnung ausfindig zu machen. Ich war erfolgreich, wurde deshalb zur Einweihungsparty eingeladen und traf die ersten von vielen Familienmitgliedern, die in Frankreich den Krieg überlebt hatten. Dazu gehörte auch Leons Cousine und deren 18-jährige Tochter Aliette Kagan, die gerade ihr Abitur gemacht und sich für ein Jurastudium eingeschrieben hatte. Später wechselte sie zum Fach Biologie. Auch ihre Brüder lernte ich kennen. Viel später sollte einer von ihnen den sehr renommierten Wolf-Preis für Chemie erhalten.
Die Familie Trilling war in Bialystok, einer polnischen Stadt auf halbem Weg zwischen Warschau und Wilno, sehr bekannt gewesen. Der Familiensage zufolge war es Zar Peter der Große (1672–1725) gewesen, der ihren Vorfahren mit anderen Fachleuten aus Holland für den Umbau seines Reichs nach westlichem Muster geholt hatte. Deshalb waren sie Kaufleute der Ersten Gilde und konnten im gesamten Reich reisen, wohin sie wollten. Ihre erste Fremdsprache war, wie bei der russischen Oberklasse üblich, Französisch. 1939 war ihr Familienzweig nach Frankreich umgesiedelt, wo sich alle gut einrichteten.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Meiner zukünftigen Gattin hatte ich gestanden, dass ich eine sehr anspruchsvolle Geliebte hätte, die ich nicht aufgeben wollte. Das machte ihr zum Glück nichts aus. Diese Geliebte war – und ist – die Naturwissenschaft. Meine Frau hat mich die ganze Zeit in außergewöhnlicher Weise unterstützt. Ohne ihre Bereitschaft, mich mein Leben als Glücksspiel verbringen zu lassen – und damit auch ihres und das unserer Kinder –, wäre die seltsame Laufbahn, die ich beschritten habe, undenkbar gewesen. Hier ist ein Bild von uns vom April 1955 in den Alpen, kurz nach unserer Verlobung, und eines vom 5. November 1955 bei unserer Hochzeitsfeier.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Als wir einander näher kennenlernten, waren unsere Abende außer Haus fast ausschließlich von Musik bestimmt. Kurz nach unserer Hochzeit besuchten wir die unvergesslichste
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