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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Wetter zum Büro und zum Hörsaal. Deshalb wirkte sein Gesicht wettergegerbt, aber geistig und nach Jahren war er jung. Seine Dissertation – den Doktortitel erhielt er mit 20 – befasste sich mit Bergschnecken und machte ihn mit den wissenschaftlichen Verfahren der Zoologie vertraut. Gleich darauf wechselte er das Wissensgebiet und begann mit seinen lebenslangen Bemühungen, angemessene wissenschaftliche Grundsätze auf das menschliche Verhalten auszuweiten.
    Seine ersten Bücher über die Intelligenz von Kindern beruhten auf der Beobachtung seiner eigenen Kinder; er hatte die Texte in seinen frühen Zwanzigern verfasst. Er ruhte sich nicht auf seinen Lorbeeren aus, sondern arbeitete ständig an Aufsätzen, Berichten oder an einem Buch. Gleich zu Anfang des Schuljahrs bat er mich, einen Blick in sein aktuelles Buchprojekt zu werfen, und überreichte mir ein Kapitel. Ich fand es interessant, bat ihn aber, ein paar Zeilen genauer zu erklären. Piaget entschuldigte sich und folgte dem Vorschlag: In kürzester Zeit wurden aus unklaren Zeilen ganze Seiten mit unklaren Aussagen. Bald wurde mir klar, dass ihm – bis zu diesem Moment – nie jemand gesagt hatte: »Ich verstehe das nicht ganz. Bitte erklären Sie es.«
    Vor der Gründung des Zentrums für genetische Epistemologie hatte Piaget sich internationalen Ruhm erworben, aber gleichzeitig ein vollkommen abgeschirmtes und sehr karges Leben geführt. Zumeist hatte er es mit Pädagogikstudenten zu tun gehabt – voller Ehrfurcht und bestrebt, schnell einen Abschluss zu machen – oder mit bodenständigen Schullehrern, die es nie gewagt hätten, ihm zu widersprechen.
    Piaget machte vielleicht vage oder falsche Aussagen, aber er war kein Schwindler, und ich erkannte an ihm stets einen genialen Zug. Aufgrund der extremen Isolation vor 1950 war seine wissenschaftliche Begabung nie durch Wettbewerb geschärft worden. Seine Ambitionen waren grenzenlos, aber ohne die geringste Andeutung jener tiefen Wahrheit, die ich durch John von Neumann gelernt hatte: dass ein Wissenschaftler Mut zeigt, wenn er Probleme ausfindig macht, die weder zu einfach noch zu schwierig sind. Am besten funktioniert Wissenschaft, wenn man zulässt, groß, nicht aber zu groß zu denken. Ich arbeitete hart, löste aber kein Wunder aus.
    Ich bewunderte Piagets Ehrgeiz, zum Kepler der Psychologie zu werden – keineswegs aber seine Erwartung, dass mit unserer Unterstützung ein oder zwei Jahre dafür ausreichen würden. Sein Zentrum bestand über Jahre hinweg, und Berichten zufolge arbeiteten meine Nachfolger mit mehr Erfolg als ich.

Marc Kac (1914–1984)
    Die Jahre, die ich in Genf verbrachte, gewannen aufgrund eines überaus günstigen Umstands noch zusätzlich; es war die enge Bekanntschaft mit zwei weiteren Besuchern, die zufällig die aktivsten Wahrscheinlichkeitstheoretiker westlich des Eisernen Vorhangs waren. 1955/56 lebte dort Mark Kac, ein Mathematiker der Cornell University. Er hatte keine feste Kollegengruppe um sich, und so hinderte uns nichts daran, uns näher kennenzulernen. 1956/57 kam dann Willy Feller hinzu und Joseph Doob, den ich nicht so gut kannte.
    Mark Kac war schlagfertig und brachte immer Leben in jede Gesellschaft. Als Geschichtenerzähler war er um einiges talentierter, als man das bei Mathematikern üblicherweise findet, und er setzte sich unermüdlich für eine größere Harmonie zwischen Mathematik und Naturwissenschaften ein.
    Seine persönliche Art, seine Vorlieben und Abneigungen überraschten mich sehr, weil sie nicht zum knochentrockenen Stil seiner Aufsätze passten. Er war von seinem Lehrer und geistigen Ziehvater Hugo Steinhaus (1887–1972) tief beeinflusst. Dieser Mathematiker war um 1900 in Wien ausgebildet worden – zu einer Zeit, als die Stadt ein bedeutendes Geisteszentrum war. Insofern war Kac’ Ideal nicht allzu weit von dem entfernt, was Hadamard vollbracht und Szolem verschmäht hatte, während ich hoffte, es zu schaffen: eine harmonische Verschmelzung von Mathematik und Naturwissenschaften.
    Er war wie ich in Polen aufgewachsen (wo sein Familienname Katz geschrieben wurde), aber unsere unruhige Jugend hatte uns sehr unterschiedliche Reaktionsweisen vermittelt. Er hatte großen Respekt für Ordnung und große Furcht vor Anarchie erworben. Als wir uns eines Tages nach einer Vorlesung unterhielten, kam ein anderer Teilnehmer vorbei und meinte, er sei hoch erfreut, zwei so große Einzelkämpfer zusammen zu erleben. Mit seinem üblichen Lächeln antwortete

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