Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
im Rahmen des bereits Bekannten ausfindig zu machen. Meine Bewunderung für Lévys »mathematische Vorlieben« nimmt jedes Mal zu, wenn ich ein wissenschaftliches Problem angehe und das von mir benötigte Werkzeug seinen Stempel trägt, obwohl er an dieses Problem unmöglich gedacht haben kann.
Was für ein Kontrast zu der Periode um 1960! Damals betrachtete man die Lévy-Stabilität als sehr spezielle und uninteressante Vorstellung. Abgesehen von dem Werk von Gnedenko und Kolmogorow war ihr in Lehrbüchern nur eine Seite gewidmet. In der englischen Übersetzung wird die Hoffnung ausgedrückt, die lévy-stabilen Grenzwerte würden mit der Zeit ebenfalls diverse Anwendungen finden, etwa auf dem Gebiet der statistischen Physik . Doch es wurde keine aktuelle Anwendung dargestellt oder zitiert – bis zu meiner Arbeit.
Lévys Mini-Seminare – ich nahm an einigen teil – prägten mein ganzes Leben. Er war kein charismatischer Dozent; er wirkte zerbrechlich und in sich gekehrt. Es waren wenige Zuhörer anwesend, und nach meiner (hoffentlich unzutreffenden) Erinnerung bin ich oft allein gewesen. Außerdem konnte ich Lévy bei dem wöchentlichen Seminar über Wahrscheinlichkeit aus der Nähe beobachten. Jemand stellte auf der Tafel ein Problem vor, dann sah er Lévy direkt an und bat ihn, die Antwort abzuschätzen. Die Schätzung war korrekt. Aber wie zuverlässig konnte Lévy jenseits von Schätzungen vorgehen? Ein Buch von Kiyosi Ito und Henry P. McKean ist ausdrücklich P. Lévy gewidmet, dessen Arbeit uns angespornt hat und die wir bewundern. Es enthält folgende Aussage: Die Schwierigkeit bei diesem Beweis liegt in dem Sprung zwischen [zwei Gleichungen auf dieser Seite]; obwohl die Bedeutung klar ersichtlich ist, verstehen wir die vollständige Begründung nicht . Dann folgt eine lange Sequenz, die erforderlich ist, um die fragliche logische Kluft zu umgehen.
Andrei Kolmogorow
Ein Riese in der Generation meiner Lehrer war der Universalgelehrte Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow (1903– 1987), der in Moskau lebte. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sich zu Wiener und von Neumann gesellt und mein geistiges Wachstum direkt beeinflusst, doch der Eiserne Vorhang war damals ein unüberwindliches Hindernis. Wie Lévy wurde er für sein Werk in reiner Mathematik gerühmt. Er dachte auch über viele Aspekte der realen Welt nach, darunter auch die Struktur russischer Poesie. In den 1930er-Jahren kam er in der Genetik zu Ergebnissen, die Stoff für Lehrbücher wurden. Aber sein Gegenspieler war der berüchtigte Trofim Lysenko, ein von Stalin geförderter Scharlatan, der die Genetik in Russland zerstörte, weshalb Kolmogorow in Ungnade fiel. Mit einer bahnbrechenden Arbeit über Turbulenz, die wir am Caltech studierten und die einen direkten Einfluss auf meine Recherchen hatte, trat er wieder in Erscheinung.
Zu jedermanns Freude und Überraschung konnte Kolmogorow dank politischer Manöver den Frühling 1958 in Paris verbringen. In einem überfüllten, unvergesslichen Kolloquium skizzierte er die Resultate der Arbeiten zweier seiner Studenten, die beide sehr berühmt werden sollten: Wladimir Arnold und Jakow Sinai. Arnolds Resultate stellten eine greifbare Ergänzung zu einer bedeutenden Frage dar, zu der ich im Lauf der Jahre beitragen sollte: der Unterscheidung zwischen Objekten unterschiedlicher Dimension. Die von Giuseppe Peano (1858–1932) im Jahr 1890 vorgestellte erste quadratfüllende Kurve zeigte, dass eine stetige Bewegung jeden Punkt eines Quadrats erreichen kann. Die »Intuition« behauptete, dass ein- und zweidimensionale Objekte nicht vermengt werden konnten; daher bezeichnete man 1890 eine Kurve, die eine Ebene ausfüllte, als monströs. Der skandalöse Sachverhalt blieb bestehen, bis die fraktale Geometrie jenes Ungeheuer in ein intuitives Werkzeug verwandelte. Die 1958 von Kolmogorow vorgestellten Resultate Arnolds zeigten, dass jede stetige Funktion eines Punktes in der Ebene durch die Vereinigung von zehn Funktionen eines Punktes auf der Linie dargestellt werden kann. Da musste irgendwo ein Haken sein! Ja! Diese zehn Funktionen mussten spezielle Fraktale sein.
Kolmogorow war Mitautor eines Lehrbuchs, das ein allgemein als bloßes Spielzeug betrachtetes, obskures mathematisches Objekt behandelte – ich bezeichnete es später als Lévy-stabile Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Die einzige in der Literatur verzeichnete Anwendung auf die reale Welt war recht isoliert und bot sich nicht zur Entwicklung
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