Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Krieg in Vietnam gestürzt. Der Krieg verlief nicht gut und brachte alle von Mendès vorhergesagten Probleme mit sich. Letztlich blieb den Vätern des Krieges, Mendes’ unerbittlichen Feinden, nichts anderes übrig, als ihn zu bitten, mit dem von ihnen angerichteten Durcheinander aufzuräumen. Dabei folgten sie einem aus dem alten ottomanischen Reich vertrauten Muster: Wann immer das Reich ein Stück seines Territoriums abtreten musste, war der amtierende Außenminister ganz zufällig kein Türke, sondern ein Grieche. PMF schaffte es – mithilfe von Tricks und Täuschungsmanövern –, dann beeilte er sich, die französischen Protektorate in Tunesien und Marokko aufzugeben. An diesem Punkt wurde er gestürzt, und die politische Lage geriet erneut in das Fahrwasser, das de Gaulle bald wieder zurück an die Macht brachte. Mendès-France lagen die Naturwissenschaften sehr am Herzen, weshalb er jede Gelegenheit nutzte, sie zu fördern und ihre Schwäche in Frankreich zu beklagen. Das wurde weithin vernommen, was vielleicht der Grund war, dass die französischen Universitäten – vor England und Deutschland – von einer heftigen und unkontrollierten Einschreibungswoge überrollt wurden und der französische Markt für Akademiker von Baisse auf Hausse umsprang. In kürzester Zeit sollte das großen Einfluss auf mich haben.
Paul Lévy
Eine meiner wenigen akademischen Leistungen 1954/55 war es, mit Paul Lévy bekannt zu werden. Er hatte nie einen offiziellen Studenten, ich hatte nie einen offiziellen Lehrer und dachte auch nie daran, sein Klon oder Schatten zu werden. Doch ein großer Teil der Wahrscheinlichkeitstheorie bestand lange Zeit darin, logische Lücken in seiner Arbeit zu füllen; ganz real, wenn auch indirekt, war Lévy der Lehrer für mehrere seiner Familienmitglieder und auch der meine.
Sein Leben, sein Denken und seine Ansichten hat er ausführlich in einem Buch niedergelegt, das sehr lesenswert ist, weil dem Autor jeder Ansatz fehlt, sich besser oder schlechter darzustellen, als er ist. In seinen besten Passagen ist es glanzvoll. Insbesondere schildert er in anrührenden Worten sowohl seine Angst, ein bloßer Überlebender des letzten Jahrhunderts zu sein, als auch seinen Eindruck, als Mathematiker sei er anders als alle anderen . Diese Gefühle wurden von vielen geteilt. Ich erinnere mich, wie John von Neumann 1954 erklärte: »Ich glaube zu verstehen, wie jeder andere Mathematiker vorgeht, aber Lévy ist wie ein Besucher von einem anderen Planeten. Seine ganz persönlichen Methoden, zur Wahrheit zu kommen, bereiten mir Unbehagen.«
Als Lévy 1971 starb, warb ich für eine Art Gedenkfeier an der Polytechnique, aber es kam kaum jemand. Die Feier zum 100.Geburtstag 1986 zeigte dann ein ganz anderes Bild. Inzwischen hatte man Lévys Fehler und Eigenheiten vergeben und vergessen, und reine Mathematiker organisierten eine große Tagung. (Mittlerweile ist ein Gebäude der Polytechnique nach Lévy benannt.) Sehr spät wurde auch ich eingeladen und diskret über eine starke Opposition gegen meine Einladung in Kenntnis gesetzt; man riet mir, dem lautesten Opponenten aus dem Weg zu gehen. Traurig fragte ich mich, ob man Lévy eingeladen hätte, und wenn ja, ob er sich wohlgefühlt hätte. Bei mir war das nicht der Fall.
Noch einmal sei es gesagt, Lévy war der unauffälligste Mensch auf Erden. Aber wie ist dann der tiefe Einfluss zu erklären, den sein Werk und sein Stil auf mich und auf viele andere Wissenschaftler hatten? Darin liegt eine bekannte und immer wieder überraschende Geschichte über die eigentliche Natur der Wahrscheinlichkeitstheorie.
Eine Hälfte dieser Geschichte gehört zu dem Geheimnis, das der große mathematische Physiker Eugene Wigner als die vernünftig nicht begründbare Effektivität der Mathematik in den Naturwissenschaften bezeichnet hat. Ein dazu symmetrisches Geheimnis sollte man nie vergessen: die vernünftig nicht begründbare Effektivität der Naturwissenschaften in der Mathematik. Gemeinsam bestätigen diese Mysterien, dass das Denken des Menschen eine Einheit mit sich selbst (und sogar mit dem Gefühl) bildet – nicht in einer zeitgeistigen New-Age-Version, sondern in einem ganz grundlegenden Sinn.
Georg Cantor hat behauptet, das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit . Aber Mathematiker greifen sich Probleme nicht aus der Luft, nur weil es ihnen Spaß macht, sie zu lösen. Im Gegenteil – ein Hinweis auf Größe liegt in der Fähigkeit, das interessanteste Problem
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