Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Mädchen überlebt, indem es sich an die Soldaten verkauft. Heute ist sie wieder da, in etwas besserer Stimmung, denn sie hat verstanden, dass man ihr wirklich helfen will.
Florence steht an der Tür, als das Mädchen gerade gehen will. Sie sieht, wie es sich umdreht, den Kopf vor dem Arzt senkt und ein Danke murmelt. Als das Mädchen an ihr vorbeigeht, erkennt Florence «Tränen unter ihren verschlossenen Augenlidern. Auch sie war ein Opfer des Krieges.»
92.
Montag, 10. April 1916
Edward Mousley sieht, wie in Kut al-Amara die letzten Pferde getötet werden
Zugpferde und Maulesel sind schon lange geschlachtet, aber die Reitpferde haben sie bewusst geschont. Jetzt geht auch das nicht mehr. Wieder ist ein Entsatzversuch gescheitert. Der Befehl lautet, dass die letzten Pferde geschlachtet werden sollen, um die eingeschlossene, bald ausgehungerte Garnison zu ernähren.
Mousley rupft frisches Gras. Dann geht er dorthin, wo die Pferde stehen. Don Juan erkennt seinen Herrn und begrüßt ihn lebhaft. Mousley gibt ihm das Gras zu fressen.
Dann beginnt das Schlachten.
Ein Unteroffizier erschießt die Tiere. Nacheinander sacken die großen, schweren Tierkörper zusammen. Mousley sieht zunächst zu, beobachtet, wie die Pferde zitternd darauf warten, an die Reihe zu kommen. Don Juan stampft mit den Hufen wie die anderen, ist aber sonst ganz ruhig. Als es so weit ist, kann Mousley nicht mehr hinsehen. Stattdessen bittet er den Unteroffizier, sorgfältig zu zielen und ihm Bescheid zu sagen, wenn alles vorbei ist. Danach gibt er dem Tier einen Kuss auf die Wange und geht. Er sieht noch, wie das Pferd sich umdreht und ihm nachschaut. Dann knallt es noch einmal.
Zum Abendessen gibt es Don Juans Herz und Nieren. (Diese Teile des Pferdes sind immer dem Besitzer vorbehalten; Mousley hat auch Don Juans schwarzen Schweif bekommen.) Es ist natürlich ein komisches Gefühl, aber er findet nicht, dass er unrecht tut. Er schreibt in sein Tagebuch: «Ich bin sicher, er hätte es vorgezogen, dass ich es tue und kein anderer.»
93.
Dienstag, 25. April 1916
Elfriede Kuhr erlebt eine Szene auf dem Bahnhof von Schneidemühl
Wieder einmal geht Elfriede zum Bahnhof. Sie besucht ihre beste Freundin, Dora Haensch, deren Eltern das kleine Restaurant im Bahnhofsgebäude betreiben. Dort erlebt Elfriede, wie zwei Soldaten hereinkommen. Der eine ist ein junger Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen, der andere ist groß und breit und sehr betrunken. Er verlangt ein Bier, aber der rundliche Herr Haensch verwehrt es ihm. Da lehnt sich der Betrunkene über den Tresen, um sich selbst Bier zu zapfen, aber Herr Haensch fasst ihn an den Schultern und stößt ihn weg. Der Betrunkene greift nach seinem Bajonett und geht auf Herrn Haensch los. Der rennt zu einer Hintertür. Dora und ihre Mutter schreien. Einige Gäste erheben sich, greifen nach Stühlen und halten sie vor ihren Körper. Der Kamerad des Betrunkenen, der sich unterdessen mit ausgestreckten Beinen an einem Tisch niedergelassen hat, sagt ruhig zu ihm: «Hau ab, schnell.» Was der Betrunkene dann auch tut.
Gleich darauf kommt Herr Haensch zurück, begleitet von einem Unteroffizier und zwei Wachsoldaten. Der Unteroffizier geht zu dem Kameraden des Betrunkenen, der in einer Zeitung blättert, und erkundigt sich in freundlichem Ton nach dem Namen des Flüchtigen und welchem Regiment er angehöre. Der Mann mit der Zeitung weigert sich, Auskunft zu geben. Der Unteroffizier tritt näher und sagt etwas, das Elfriede nicht versteht. Der junge Soldat steht auf und schreit: «Sie sind ein Lümmel, Unteroffizier! Ich hab diesen Scheißkrieg nicht gewollt, zum Soldat-Spielen hat man mich gezwungen. Gut. Also gut! Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, so bitte ich um einen militärischen Ton. Im Übrigen können Sie mich lange zwiebeln; den Namen meines Kameraden sag ich nicht!»
Die hitzige Diskussion geht weiter. Der junge Soldat weigert sich hartnäckig, seinen betrunkenen Freund zu verraten, und wird am Ende selbst festgenommen. Elfriede sieht, wie er von den beiden Wachsoldaten mit aufgepflanzten, blitzenden Bajonetten abgeführt wird. Das Gesicht des Verhafteten ist so bleich, dass seine Lippen fast weiß aussehen. Sobald die Tür hinter den vier Männern zugefallen ist, beginnen alle wieder zu sprechen. Erregte Stimmen erfüllen den Raum. Elfriede fühlt Doras Herz, es schlägt wie wild.
Elfriede sagt zu Dora, dass sie nicht sicher sei, wer von beiden recht hätte: der Unteroffizier oder
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