Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
vorrückenden Deutschen, sondern fast noch mehr vor der zerfallenden Moral.
Zu diesem Zeitpunkt ist «die Freiheitsoffensive» 26 bereits zusammengebrochen, der letzte verzweifelte Versuch der neuen Regierung, den Krieg fortzusetzen. Florence’ Einheit gehört zur 8. Armee, der es anfangs tatsächlich gelungen war, die feindlichen Linien südlich des Dnjestr zu durchbrechen, die dann aber, nachdem sie nur ungefähr drei Meilen vorgerückt war, zum Stillstand gekommen ist, weil der Nachschub stockte und die Soldaten entmutigt waren. Sie haben Versammlungen abgehalten, Fragen gestellt, über Bedingungen diskutiert, Komitees gebildet und verlangt, dass sie ihre Offiziere selbst wählen dürfen. Desertionen häufen sich und treten jetzt ganz offen zutage. Ganze Divisionen haben ihren Einsatz verweigert. Voller Erstaunen hat Florence festgestellt, dass viele Soldaten tatsächlich nicht mehr kämpfen wollen. Neben den eigenen Offizieren haben sie für ihren Unmut auch eine neue Zielscheibe gefunden, die Krankenschwestern. Weil sie Freiwillige sind oder Frauen oder beides? Sie werden inzwischen mit Flüchen und Anzüglichkeiten bedacht; zum allerersten Mal hat Florence Angst vor den eigenen Soldaten und hat sich sogar vor ihnen versteckt.
Auf der anderen Seite der Grenze werden sie den Zerfall der russischen Armee hoffentlich nicht mehr miterleben müssen. Dort haben außerdem rumänische und russische Einheiten eine kleinere Freiheitsoffensive gestartet. Und nach allem, was sie zuletzt gehört haben, scheint sie durchaus erfolgreich zu verlaufen. Nein, sie haben diesen Marsch begrüßt, nicht weil er sie vom Krieg fort, sondern an einen Ort führen wird, wo sie wirklich etwas Sinnvolles tun können.
Sie machen auf einem offenen Feld halt und essen dicke Soldatengrütze mit Fleisch, Fisch und Gemüse. Die Sonne steht hoch am blauen Himmel, und es ist sehr heiß. Florence hört, wie sich Soldaten streiten. Politik, natürlich. Dann versteht sie Einzelheiten: Der Regierungschef werde Brussilow wohl entlassen, ihren Helden, weil er ihn für die misslungene Offensive verantwortlich mache. Erregte Stimmen sind zu hören. Auch Florence ist aufgebracht. Sie lässt sich jedoch nicht in die Diskussion hineinziehen, sondern geht mit einer Kameradin zum Fluss, um sich abzukühlen. Leider finden sie keinen Platz, der abseits genug liegt – überall treffen sie auf Soldaten. Sie kehren also zurück zur Wagenkolonne auf dem Feld. Dort kriechen sie in den Schatten unter einem der großen Wagen. Sie hat Zeit, einige Briefe zu schreiben, bevor der Befehl zum Aufbruch erfolgt. Das geschieht etwa um vier Uhr nachmittags.
Später kommen sie an einen steilen, langgestreckten Hügel. Dort müssen sie warten, da die Pferde die schweren Wagen allein nicht hochziehen können. Sie schreibt in ihr Tagebuch:
Eine Gruppe junger Soldaten half dabei, Pferde und Wagen der Reihe nach auf den Hügel zu bringen. Es gab viel Geschrei und unnötige Peitschenhiebe. Die armen, verängstigten Tiere wussten, was von ihnen erwartet wurde, und gaben ihr Bestes, aber ihre tiefen, krampfhaften Atemzüge und schaumbedeckten, schweißnassen Körper verrieten, welche unerhörte Anstrengung jede Bewegung für sie bedeutete.
Danach geht es auf holprigen Wegen weiter, bergauf und bergab durch eine hügelige Landschaft, durch Dörfer mit kleinen, schmucken Holzhäusern, deren Fenster mit Gardinen behängt sind, vorbei an Frauen und Kindern in exotischen, hübsch bestickten Kleidern. Sie hört eine alte Frau beim Anblick all dieser uniformierten Menschen erschrocken etwas ausrufen, und Florence fühlt sich an die italienische Sprache erinnert. Dies ist also Rumänien. Sie halten in einer kleinen Stadt an und kaufen Äpfel bei den jüdischen Händlern. Gegen Rubel. Eier sind nicht zu bekommen, die Soldaten haben schon alle aufgekauft. Die Sommerhitze wird ein wenig erträglicher, als sie in einen schönen, schattigen Kiefernwald kommen.
Am Abend errichten sie an einem Hügel am Rande einer Stadt ihr Lager. In der Hitze verzichten sie auf ihre Zelte und stellen ihre aufklappbaren Betten im Freien auf. Ihrem Chef ist es gelungen, eine Zeitung zu ergattern, die nur drei Tage alt ist, und am Lagerfeuer liest er laut daraus vor. Vieles handelt von dem üblichen politischen Chaos in der russischen Hauptstadt, was Florence nur mäßig interessiert. Doch gibt es eine Meldung, die sie und einige andere Krankenschwestern aufhorchen lässt: Angesichts der
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